ANATEVKA an der Komischen Oper Berlin

Premierenkritik Barrie Kosky inszenierte das Musical (das von 1971 bis 1988 unterm Titel "Der Fiedler auf dem Dach" bei Walter Felsenstein 500 mal gezeigt wurde) jetzt völlig neu

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Der Fiedler auf dem Dach (oder auch Anatevka) - in der Regie von Walter Felsenstein - war mit über 500 Terminen die von 1971 bis 1988 meist besuchte Vorstellung der Komischen Oper Berlin, die dieses Jahr ihren 70. Geburtstag feiert. Gestern Abend kam ein sichtlich gut gelaunter Bundespräsident ins Haus, um mit paar schönen (kurzweiligen) Sätzen an das junge Jubiläum zu erinnern; und ihm wird, wie all den andern Anwesenden auch, die neue Inszenierung dieses Musicals von Jerry Bock (Musik) und Joseph Stein/Sheldon Harnick (Buch und Gesangstexte [deutsch von Rolf Merz und Gerhard Hagen]) ungemein gefallen haben.

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Unter der Programmheft-Überschrift Der "Milchmann-Prophet" hat Regisseur Barrie Kosky ein sehr spannend zu lesendes Interview veröffentlichen lassen, hierin beschreibt er auch seine zutiefst persönliche Beziehung zu dem Stück:

"Natürlich hat jeder Jude der Diaspora ein Verhältnis zu diesem Werk, Fiddler on the Roof ist Teil der jüdischen Identität der Nachkriegszeit des 20. Jahrhunderts - man mag das Stück lieben oder hassen. Aber meine emotionale Reaktion ist bei Anatevka nun tatsächlich auf eine ganz andere Art persönlich, denn es hat auch mit meiner Familiengeschichte meines Großvaters zu tun. Diese entspricht ziemlich genau der Geschichte im Stück. Die Koskys stammen aus dem weißrussischen Schtetl Chashniki südöstlich von Vitebsk. Das könnte ebenso gut Anatevka sein. Mein Großvater, seine vier Brüder und zwei Schwestern haben diesen Ort 1905 verlassen, zur selben Zeit, in der auch Anatevka spielt, und unter denselben Umständen. Sie flohen vor den Pogromen, die überall in Weißrussland stattfanden, nach Deutschland, wo sie aber nicht bleiben konnten. Von Hamburg aus reisten sie weiter nach Australien. Aber anders als im Stück blieben Teile meiner Familie im Schtetl: Mein Urgroßvater und seine Frau, er war der Hausverwalter in der Synagoge von Chashniki, lebten bis zu ihrem Tode in Weißrussland. Natürlich teilen Millionen jüdischer Familien diese Geschichte: Die jüdische Gesellschaft innerhalb der Gesellschaft wird über den ganzen Erdball verstreut. Dies berührt zugleich die ganz fundamentale Bedeutung der Exilgeschichte für das Judentum." (Quelle: ProgrammheftAnatevka, Komische Oper Berlin 2017, S. 5/6)

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Anatevka lässt sich, schon vom Stoff her, nicht als Broadway-Musical im seicht-herkömmlichen Gewohnheitssinn begreifen. Es hat viel gesproch'nen Text, was allerdings (konkret für dieses Werk) von wohl auch literarischer Bedeutung ist, man könnte es daher auch als ein Schauspiel mit Musik klassifizieren. Daher braucht es freilich "nicht nur" gute Sänger, sondern - und in erster Linie - gute Schauspieler. Was das betrifft, waren und sind Max Hopp (Tevje) und Dagmar Manzel (Golde) allererste und auch allerbeste Wahl!! Sie sprechen - und sie singen!!!! - ihren Ehegatten-Doppelpart mit einer seelentiefen Wärme, Leichtigkeit und stimmlich-sängerischen Kraft, dass diese Art Zusammenspiel, im jeweils Einzelnen als wie "im großen Ganzen", derzeit ihres Gleichen suchen dürfte. Es gibt sehr berührende Momente - beispielsweise wenn das Paar sich, nach fast fünfzig Jahren menschlichen Zusammenseins, bewusst darüber wird, dass es sich eigentlich doch richtig liebt, obwohl das Wörtchen Liebe nie zuvor bei ihm je ausgesprochen wurde; diese urplötzliche und auch beidseitige Offenbarung (im Duett) durch Hopp & Manzel wahrzunehmen ist zum Heulen schön...

So einen ungefähren Eindruck, wie das Jiddische im damaligen Territorium der alten Ukraine geklungen haben mag, vermittelt die als hochgradig gewiefte Heiratsvermittlerin Jente agierende Barbara Spitz!

Der Kosky transportiert - gemeinsam mit Koen Schoots (Dirigent) und Otto Pichler (Choreograf) - einen fast überschäumend-prallen Lebensaus- und -abschnitt dieses überschaubar kleinen im ganz großen Welten-Kosmos. Vor der Pause kippt dann allerdings die bis zum Stückschluss anhaltende "gute" Grundstimmung": Die Hochzeitsfeier von Tevjes und Goldes erstgebor'ner Tochter Zeitel (Talya Lieberman) mit Schneider Mottel Kamzoil (Johannes Dunz) wird durch einen 'ranrasenden Judenhasser-Mob auseinandergetrieben; er demütigt das Brautpaar, wenn er literweise Milch aus Tevjes Kannen über es und seine Eltern und Familien ergießt... Da stockt einem dann schon der Atem!

Karsten Küsters (als Wachtmeister) fordert die Juden letztlich auf, ihren Besitz und Hausrat in drei Tagen zu veräußern und ihr Schtetl unverzüglich zu verlassen; wer der Anweisung nicht nachkäme, würde mit Konsequenzen rechnen müssen...

Und so zieh'n sie nach und nach - fast ohne jeden Groll, vermeinte man als Seher und als Hörer dieses Musicals gespürt zu haben - in die Welt hinaus; und das war (gottgewollt für die Betroffenen) noch Jahre und Jahrzehnte vor dem Holocaust.

Bleibt dringender denn je zu hoffen, dass das Stück sehr lang im Repertoire verankert sein wird. Dass es auch oder vor allem junge Menschen sehen, nachempfinden und begreifen werden, was in Anatevka (oder anderswo und später) alles so an Folgeschwerem abgelaufen war!

[Erstveröffentlicht auf KULTURA-EXTRA am 04.12.2017.]

ANATEVKA (Komische Oper Berlin, 03.12.2017)
Musikalische Leitung: Koen Schoots
Inszenierung: Barrie Kosky
Choreografie: Otto Pichler
Bühnenbild: Rufus Didwiszus
Kostüme: Klaus Bruns
Dramaturgie: Simon Berger
Chöre: David Cavelius
Licht: Diego Leetz
Besetzung:
Tevje, ein Milchmann ... Max Hopp
Golde, seine Frau ... Dagmar Manzel
Zeitel, seine älteste Tochter ... Talya Lieberman
Hodel, zweite Tochter ... Alma Sadé
Chava, dritte Tochter ... Maria Fiselier
Jente, eine Heiratsvermittlerin ... Barbara Spitz
Mottel Kamazoil, Schneider ... Johannes Dunz
Perchik, Hodels Verehrer ... Ezra Jung
Lazar Wolf, ein Metzger ... Jens Larsen
Ein Rabbi ... Peter Renz
Mendel, sein Sohn ... Denis Milo
Fruma-Sara, Lazar Wolfs erste Frau, Oma Zettel, Goldes Großmutter ... Sigalit Feig
Wachtmeister / Russe ... Karsten Küsters
Fedja, ein junger Mann ... Ivan Turšić
Tänzer: Davide de Biasi, Damian Czarnecki, Zoltan Fekete, Paul Gerritsen, Hunter Jaques und Christoph Jonas sowie Daniel Ojeda, Michael Fernandez, Marcell Prét, Lorenzo Soragni, Michael-John Harper und Shane Dickson
Chor und Orchester der Komischen Oper Berlin
Premiere war am 3. Dezember 2017.
Weitere Termine: 05., 06., 09., 16., 21., 22., 27., 29., 31.12.2017 // 03., 13.01. / 20., 21.02. / 03., 11., 16.03. / 01., 20.04. / 15.07.2018

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Geschrieben von

Andre Sokolowski

Andre Sokolowski ist Inhaber, Herausgeber und verantw. Redakteur von "KULTURA-EXTRA, das online-magazin"

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