ANNA VINNITSKAYA, Klavier

Kurzporträt Die russische Ausnahme-Pianistin gastierte mit Werken von Prokofjew, Debussy und Chopin im Kammermusiksaal der Philharmonie Berlin

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Ihr umtriebiger Ruf eilte und eilt der (mittlerweile seit über zehn Jahren auf sich aufmerksam machenden) New-Klavierstarin Anna Vinnitskaya voraus - ja und der Schreiber dieser Zeilen hatte, beispielsweise, ihren hochspektakulären Auftritt mit den drei Bartók-Klavierkonzerten (also allen drei'n hintereinander, was an sich einen kaum vorstellbaren PianistInnen-Großakt ausmacht) unter Janowskis Leitung im April des letzten Jahres sträflichst-skandalös verpasst...

So hatte er, in Kompensierung des Versäumnisses, versucht sie irgendwann dann doch noch "abzugreifen"; vor paar Wochen erst erwischte er sie im Konzerthaus am Gendarmenmarkt, wo sie Tschaikowskis b-Moll spielte, dass die Schwarte nur so krachte; für 'nen ersten Eindruck war das schon mal nicht der schlechteste Ertrag - und gestern (endlich!) das erfolgte Live-Erlebnis eines ausschließlichen Nur-mit-ihr-Klavierabends im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie:

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"Rotziges Tastenviech, kecker Kuckuck, samtpfötige Löwenkönigin von diamantener Kraft - eine sagenhafte Klaviermenagerie scheint das zu sein, die der Kritikerchor so vielstimmig besingt. Doch sie beherbergt nur ein einziges animal musicum, ein pianistisches Fabelwesen", schreibt Kollege Albrecht Selge einführend auf annavinnitskaya.com. "Angriffslustig, swingend, dezent, barbarisch, cool sind einige der Attribute, die die Presse ihr zuschreibt. Wer diese exzellente, fantasievolle, empfindsame Musikerin im Konzert erlebt, dem springen und klingen die Assoziationen."

Sie trägt diesmal eine weitärmlige, hochgeschlossene Schulmädchenbluse mit auffälliger Krawatte und ergeht sich, zudem eingehüllt in einem langen und figurbetonten Rock, auf's Podium. Dann beginnt sie sofort mit Prokofjews vierter (und letzter) Klaviersonate:

Sergej P. hatte sie im Revolutionsjahr 1917, noch bevor er dann vorübergehend in die USA auswanderte, geschrieben und auch ihre Petrograder Uraufführung (1918) selbst gespielt; Prokofjew war ja auch ein international bekannter Pianist. Nichts weist in ihr auf die gesellschaftlichen Umwälzungen dieser Ära hin - ihr Komponist vermochte alles das in seinem Schaffen tunlichst zu verdrängen, auszugrenzen und somit "in Abrede" zu stellen; ein für ihn gewiss nicht ungefährliches Vabanquespiel. In dem dreisätzigen Stück wird wohl auch vage an die Jugendfreundschaft mit Max Schmidthof, der sich urplötzlich das Leben nahm, erinnert; in dem Abschiedsbrief soll das gestanden haben: "Ich teile Dir die letzte Neuigkeit mit - ich habe mich erschossen. Trauere mir nicht besonders nach und ertrage es mit Gleichmut, mehr ist es nicht wert. Leb wohl. Max. Die Gründe sind unwichtig." (Die wahren Gründe hatte man auch später nie herausgefunden.)

Vinnitskaya bleibt nach der gespielten Viertelstunde gleich am Flügel sitzen, konzentriert sich stark und angespannt, wechselt in einen andern Film und geht (irgendwie nahtlos) zu den sechs illustrativen Stücken Debussy's über. Sie tat sich für fünf Blätter aus dem 2heftigen Zyklus 24 Préludes sowie das Monodrama L'isle joyeuse entscheiden. Diese zum Gestalten animierenden und also ganz und gar dann impressionistischen Ergüsse scheinen für die Ausführende wie vorherbestimmt. Zwei Varianten das zu rezipieren gäbe es: offenen Auges (wo es im Zusammenhang mit ihrer imposant sich darstellenden Pianistinnen-Optik viel Staunenswertes gibt) oder geschlossnen Auges (wo man dann noch nachvollziehbarer "Schritte im Schnee", als Beispiel nur, vernimmt)...

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Chopins 24 Préludes hatte ich in meinem Leben bisher nur ein einziges Mal live erlebt - das war in den frühen 1990ern in Sofia. Der damals fast 80jährige Nikita Magaloff saß scheinbar völlig unbewegt und ungerührt am Flügel, dessen Tastatur doch ungewöhnlich nah an seinen Körper reichte; und das Augenmerk aller Betrachtenden (also derjenigen, die ihn dann vom Parkett aus, seitlich, sehen konnten) fokussierte sich allein auf seine Handgelenke, seine Finger, und ein Staunen ging, wie diese Art von Diskrepanz zwischen Unaufgeregtheit/Virtuosität eine gestalterische Überwindung fand, die wohl bis heute ihres Gleichen suchen dürfte.

Im konkret erlebten Fall von Anna & Chopin bleibt festzustellen: Das Addieren ihres ja an sich stark auffälligen Rampen-Daseins zu dem nicht gerade unoft bis zur Kitschgrenze ausartenden polnischen Einzel-Oevre scheint nicht ideal. Obgleich es (wie nicht anders zu erwarten war) die Leute nachher von den Sitzen riss.

Eine Etüde Frédérics und einen von den Puppen-Tänzen Schostakowitschs gab's als Zugabe.

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Die abschließenden Autogramme, draußen im Foyer, gibt Anna Vinnitskaya mit der linken Hand. Sie lächelt jede(n) dabei an und richtet hie und da herzliche Worte an ihre Konzertbesucher. Sie spricht fließend deutsch (studierte, wohnte lange Zeit in Hamburg). Ihre Ausstrahlung "danach", so aus der Nähe, hat mit einer Star-Allüre nichts zu tun. Sie wirkt sehr kommunikativ. Sympathisch, ohne jede Frage.

[Erstveröffentlicht auf KULTURA-EXTRA am 19.10.2017.]

PHILHARMONISCHES KLAVIERDEBÜT (Kammermusiksaal, 18.10.2017)
Sergej Prokofjew: Klaviersonate Nr. 4 c-Moll op. 29
Claude Debussy: Préludes: Des Pas sur la neige (Heft I)
- Préludes: Ce qu’a vu le vent d’ouest (Heft I)
- Préludes: La Fille aux cheveux de lin (Heft I)
- Préludes: La Terrasse des audiences du clair de lune (Heft II)
- Préludes: Feux d’artifice (Heft II)
- L'Isle joyeuse
Frédéric Chopin: 24 Préludes op. 28
Anna Vinnitskaya, Klavier

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Geschrieben von

Andre Sokolowski

Andre Sokolowski ist Inhaber, Herausgeber und verantw. Redakteur von "KULTURA-EXTRA, das online-magazin"

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