DAS RHEINGOLD mit Concerto Köln und Kent Nagano

Konzertkritik Spektakulärer Start des "Rings" bei den in puncto historisch-informierte Aufführungspraxis maßgebenden so genannten WAGNER LESARTEN in und aus Köln

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Diejenigen, die sich glückvoll aus dem Bunker mit den so genannten Wagnerianern irgendwann befreien konnten, wussten es seither schon immer:

Das, was ihren Ohren blühte, wenn sie in so einschlägigen Tempeln inklusive ihrer Fürsten und Bediensteten (Solisten, Chöre und Orchester), die das aufzuführen in der Lage wären, bis zu fünf oder sechs Stunden lang verweilten, war ihnen an irgendeiner Stelle, wo es irgendwie ganz anders klang "als wie gewohnt", suspekt. Zumeist war eine oder einer von den Wagnersängerinnen oder -sängern schuld an der Misere, und entweder packten sie die Spitzentöne nicht oder sie hielten ihre Parts nicht bis zum Ende durch oder sie fingen an zu schreien und zu kreischen oder sie erschienen letztlich nur noch fehlbesetzt. Aber auch die Orchesterklänge, je nach dem Berühmtheitsgrad der jeweiligen Dirigenten und Kapellen, boten immer wieder reichlich Anlass an ihnen herumzumäkeln. Ganz zu schweigen von den Chören, die dann meistens, wenn es Dinge zu beanstanden gegeben hatte, ihre Einsätze verpassten oder nicht synchron mit allen andern (den Solisten und Orchestern) sein konnten. Laien wie Nichtlaien meinten seit eh und je Profundes aus der sichersten Distanz ihrer Bestuhlungen über die Schwerstarbeiten ausführender Sklavinnen und Sklaven der Musik insonders des von Richard Wagner urerschaffenen Musiktheaters mitteilen zu wollen; selten stimmte was von dem, was sie da faselten, sie ließen einfach ihre Bäuche sprechen, und das wars auch schon.

Erwartungshaltungen.

Nunmehr wurde das Alles, was mit Wagner und speziell mit Wagners Ring und noch spezieller mit dem Rheingold so zu tun hat, auf das Grundsätzliche hinterfragt:

"Wagner und seine Werke sind auch ins Blickfeld der Alte-Musik-Bewegung geraten, die sich in verschiedenen historisch informierten Musteraufführungen mit seiner Klang- und Lebenswelt auseinandergesetzt hat. Eine umfassende aufführungspraktische Beschäftigung mit dem Ring steht dabei noch aus. Das auf drei Jahre angelegte und im Mai 2018 gestartete Projekt WAGNER-LESARTEN möchte das ändern: Erstmals soll Richard Wagners Der Ring des Nibelungen aus der Perspektive und mit Methoden der historisch informierten Aufführungspraxis erarbeitet und aufgeführt werden. Ein Schwerpunkt liegt neben der theoretischen Reflexion des Vorhabens auf der Rekonstruktion der Instrumental-, Gesangs-, Sprach- und Bühnenpraxis der Wagner-Zeit. Kent Nagano, das Concerto Köln und ein Team von Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen zeichnen verantwortlich für das Projekt." (Quelle: wagner-lesarten.de)

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Kent Nagano und Concerto Köln, die sich für dieses Ausnahmeprojekt zusammentaten, konnten ihre ausführenden Tätigkeiten auf professorale Grundstöcke der Sonderklasse fußen lassen - ein wissenschaftlicher Beirat von sage und schreibe neun Koryphäen diversester Disziplinen und drei externen wissenschaftlichen Mitarbeitern [alle Namen s.u.] diskutierte im "theoretischen" Vorfeld des demnächst auch noch Walküre, Siegfried sowie Götterdämmerung umfassenden Ereignisses solche (für Laien) sperrig zu lesende Themen wie z.B. "eine aufführungspraktisch motivierte Untersuchung der Ausspracheideale sowie konkrete Vorgaben für das Sprechen und Singen auf der Bühne im 19. Jahrhindert" oder "Methoden einer historischen Musikpsychologie" oder "...musste sich auch Richard Wagner das Handwerkliche von tätigen Dirigenten wie Felix Mendelssohn Bartholdy, Francois-Antoine Habeneck oder Gaspare Spontini 'abschauen'" oder "eine alternative Sichtweise auf einen historisch informierten Holzbläsersatz für Wagners Ring" oder "Normen der deutschen Bühnenaussprache im 19. Jahrhundert in Form möglichst korrekter phonetischer Merkmale zu rekonstruieren" oder "Wagners Mimik"; alles nachzulesen/ nachzusehen/ nachzuhören unter wagner-lesarten.de)...

Und weil es hierzu halt auch Menschen bräuchte/ brauchte, die das Neuerforschte, Neuerkannte, Neugemeinte in die Praxis umzusetzen hätten, war die spannendste von allen Fragen sicherlich: Wie war's ihnen gelungen?

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Mann am Pult ist immer Herr der Lage - Dirigentinnen erlebt man(n) freilich seltener beim Ring; Simone Young, Naganos Vorgängerin an der Hamburgischen Staatsoper, ist eine unter ihnen - und als solcher freilich auch der Hauptbestimmer, was das Zeitliche also was Komprimierung oder Ausdehnung betrifft; mit weltrekordverdächtigen 2 Stunden und 16 Minuten ist es womöglich das "schnellste" Rheingold, was man je zu hören kriegte! Und es hört sich in der Tat sehr gut an, und man wollte fast verdrängen, dass einem gelegentlich Mitleid ergreift, wenn man sich vorzustellen wagt, wie ätzend "unspielbar" das für die Musikerinnen und Musiker des schon erklecklich aufgestockten Concerto Köln (93 Personen!) sein könnte, wenn Naganos Hetzjagd auf sie übergreift.

Im Ganzen klingt es durchsichtig und klar und weist, trotz seiner prinzipiellen Transparenz, gewaltige (spürbar "gewalttätige") Ausbrüche, Akzente aus - das heizt den (Über-)Spannungsgrad der so schon spannungsreichen Handlung an und scheint das sängerische Personal zu inspirieren:

Reden wir von Sänger-Darstellern!!

Allen voran hinterlässt der buchstäblich wie um sein Leben singende und spielende Daniel Schmutzhard (als Alberich) den vielleicht markantesten Eindruck. Seine Textverständlichkeit - wie sowieso die Textverständlichkeiten nahezu aller weiteren Mitwirkenden als exzeptionell bezeichnet werden muss - ist beispielgebend!

Der kurzfristig (für den erkrankten Julian Prégardien) eingesprungene Thomas Mohr passt seinen Loge, den er wahrscheinlich schon hunderte Mal weltweit geboten haben dürfte, mit schier atemberaubendem Selbstverständnis den exklusiven Bedingungen dieses aufführungspraktisch besonders historisch informierten Rheingolds an - und das, obwohl er zusätzlich noch immer an den Verletzungsfolgen seines Leipziger Antichrist (in Viktor Ullmanns Der Sturz des Antichrist) zu laborieren hat. Respekt!!

Auch die gesangsdarstellerischen Qualitäten von Derek Welton (als Wotan), Gerhild Romberger (als Erda) und Tijl Faveyts (als Fasolt) lassen über gebühr aufhorchen.

Grandios auch das Terzett der Rheintöchter mit Ania Vegry, Ida Aldrian und Eva Vogel- - es "muss" an einigen Stellen, wo es passt (und wie es passt!!!) in eine Art von Sprech wechseln; und so was dürfte im 20. und 21. Jahrhundert wohl noch nie zu hören gewesen sein. Angeblich hätte Wagner das in seinen Leb- und Festspielzeiten durchaus so gewollt; interessant zu wissen.

Viel zu unauffällig, um nicht gar zu sagen poplig, kommt die Amboss-Szene bei uns aufmerksamen Rheingold-Hörern rüber. Keine Ahnung, was sich da die Spezialisten dachten; klang auf jeden Fall vollkommen un-brutal.

Die beiden chorisch exerzierten Erz-Aufschreie (des Nibelungenheeres) werden - Überraschung! - aus den 93 Frauen- und Männerkehlen des Orchesters (Concerto Köln +) aufs Eindrucksvollste abgesondert: Gänsehaut.

Ein Sensationskonzert!!!!!

[Erstveröffentlicht auf KULTURA-EXTRA am 19.11.2021.]

WAGNER LESARTEN (Kölner Philharmonie, 18.11.2021)
Richard Wagner: Das Rheingold WWV 86A
Oper in vier Szenen. Vorabend zu dem Bühnenfestspiel Der Ring des Nibelungen WWV 86 (1848–74)

Besetzung:
Wotan ... Derek Welton
Donner ... Johannes Kammler
Loge ... Thomas Mohr
Froh ... Tansel Akzeybek
Fricka ... Stefanie Irányi
Freia ... Sarah Wegener
Erda ... Gerhild Romberger
Alberich ... Daniel Schmutzhard
Mime ... Thomas Ebenstein
Fasolt ... Tijl Faveyts
Fafner ... Christoph Seidl
Woglinde ... Ania Vegry
Wellgunde ... Ida Aldrian
Flosshilde ... Eva Vogel
Concerto Köln
Dirigent: Kent Nagano
Konzertante Aufführung in der Kölner Philharmonie: 18. November 2021
Weiterer Termin im Concertgebouw Amsterdam: 20.11.2021

Projekt-Team WAGNER LESARTEN
Jochen Schäfsmeier, Projektleitung
Dr. Kai Hinrich Müller, Wissenschaftliche Leitung
Dr. Benjamin Reissenberger, Wissenschaftlicher Mitarbeiter (extern)
Oliver Kersken, Wissenschaftlicher Mitarbeiter (extern)
Elke Meierkort, Projektmanagement (Concerto Köln)
Michael Rathmann, Administrator

Wissenschaftlicher Beirat
Prof. Dr. Dieter Gutknecht, Universität zu Köln
Prof. Dr. Frank Hentschel, Universität zu Köln
Prof. Dr. Dr. h. c. Ursula Hirschfeld, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Prof. Dr. Arnold Jacobshagen, Hochschule für Musik und Tanz Köln
Dr. Christa Jost, Richard Wagner Schriften
Prof. Dr. Kai Köpp, Hochschule der Künste Bern
Prof. Dr. Anno Mungen, Universität Bayreuth
Prof. Dr. Thomas Seedorf, Hochschule für Musik Karlsruhe
Prof. Dr. Hans-Joachim Wagner, Universität zu Köln

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Geschrieben von

Andre Sokolowski

Andre Sokolowski ist Inhaber, Herausgeber und verantw. Redakteur von "KULTURA-EXTRA, das online-magazin"

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