"Depressive Kinder" aus Prag

Video EIN STÜCK: TSCHECHIEN

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Seit sieben Jahren gibt es das FestivaL EIN STÜCK: TSCHECHIEN, und veranstaltet wird es vom VereiN Drama Panorama, der sich auch um die Vernetzung von "Theaterübersetzer*innen und -autor*innen mit dem praktischen Theaterbetrieb" kümmert.

"Ziel des Projektes ist es, ein offenes Forum für internationale Theaterüber­setzer*innen zu schaffen, mit dem Theater in einen Dialog zu treten, deutlich zu machen, dass Übersetzer*innen Teil der Theaterschaffenden sind, neue Wege in der Theaterübersetzung zu gehen und die Theaterübersetzung einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen."

So war dieser Verein z.B. auch bei Arbeiterinnen von werkgruppe 2, die die Ruhrfestspiele Recklinghausen streamten, "helfend" involviert; ich sah mir dieses Video neulich an [s. Hyperlink].

Beim diesjährigen Festival EIN STÜCK: TSCHECHIEN, das wegen der Corona-Pandemie wieder nur online stattfindet, konnte ich heute Nachmittag die Theatergruppe Depresivní děti touží po penězích (Depressive Kinder gieren nach Geld) besichtigen - die sollte eigentlich mit ihrer Produktion Der Untergang des Hauses Usher im Ballhaus Ost gastieren. Alternativ nahm sie mich nunmehr mit nach Prag "auf eine sinnlich-satirische Tour durch ihre Spielstätte Venuše ve Švehlovce, einem alten Ballsaal im Prager Szeneviertel Žižkov"...

Eingebetteter Medieninhalt

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Janička, die wie'n mütterliches Kuschelkissen für die "Depressiven Kids" herüberkommt, geleitet von der Straße aus, wo sich das zwischen 1923 und 1925 im Stil des Rondokubismus erbaute ehemalige Studentenwohnheim befindet, zur Haustür und danach die Treppenstufen hoch...

Im Treppenhaus hängt die Skulptur einer sich erhängt habenden Thalia (David Slajs hat sie gemacht) und ist zu ihrer Zeit für'n Happening genutzt worden, wo man vermeinte sich nur noch erhängen zu können, falls man die saublöden Stücke eines Feydau bis zu Ende erleben müsste...

Die Exkursionsleiterin erschrickt: Sie glaubt, den Theatergründer und -leiter Jakub Čermák an einem Strick gesehen zu haben - hat er sich etwa "auch" aufgehängt, weil alles Theater (wegen Corona) gerade nicht mehr stattfindet?

Die kleine Theaterbar ist jetzt zu einer provisorischen Poststelle umfunktioniert, Lúbor & Lucka betätigen sich als Schalterbeamte - eine Kundin mit Hündchen, die ihr Paket abholen will, "muss" sich jedoch zuvor ein Stück anschauen, die die beiden Schauspielunternehmer für sie spielen würden; drei stehen zur Auswahl, Hamlet, Unsere Furianten oder Die 120 Tage von Sodom - die Kundin entscheidet sich für das kürzeste Angebot, den Hamlet...

Míša & Míša sind Mitglieder des Orchesters und spielen Klavier und Gitarre - und während sie spielen, zeigt die Kamera den wunderschönen kleinen Zuschauersaal des ehemaligen Ballsaales und momentan verwaisten Theaters...

Der Höhepunkt des Parcours ist die Hinterbühne, wo sich alle "Depressiven Kinder" hingelagert haben, es geht scheinbar drunter und drüber; ich sehe, wie sie kiffen, wie sie trinken, wie sie herumlallen, wie sie miteinnder vögeln, wie sie miteinander streiten...

Es ist der letzte (illegale?) Rückzugsort einer gestrandeten Berufsgruppe, die scheinbar keiner mehr braucht, denn seit Corona vermissen scheinbar (wirklich nur scheinbar!) allenthalben die Schauspielerinnen und Schauspieler die Schauspielerinnen und Schauspieler...

"Jemand ist im Theater", bemerkt Janička und geht nachschauen:

Außerhalb der Hinterbühne haben sich 3 Hamlet-Figuren eingeschlichen...

Später sehe ich, wie neun gleichaussehende (ebenfalls) Hamlet-Figuren dem zuvor improvisierten Hamlet-Geschehen applaudieren...

Wahrscheinlich ging es um die Ewigkeitsformel "Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage".

Oder etwa nicht?

[Erstveröffentlicht auf KULTURA-EXTRA am 08.06.2021.]

Die Theatergruppe Depresivní děti touží po penězích wurde 2004 unter der künstlerischen Leitung von Regisseur Jakub Čermák gegründet und arbeitet zwischen Happening, Performance, Site Specific, Video Art und Schauspiel. Als Vorlage dienen oft klassische Stoffe, die experimentell adaptiert werden – so auch in der Inszenierung Der Untergang des Hauses Usher (2018). Hier nimmt sich Čermák der klassischen Horrorerzählung von E. A. Poe an, das Geschehen situiert er aber im Sudetenland, das nach der Vertreibung der deutschen Bevölkerung zur Geisterlandschaft mutierte. Das Theater arbeitet auch immersiv – z.B. konnten die Zuschauer:innen in der Performance Bordel L’Amour (2018) in privaten Räumen verschiedene Formen von Liebe erleben. Čermák erhielt 2020 den tschechischen Preis für innovatives Theater "Česká divadelní DNA" für seinen Beitrag zum neuen Theater, und 2021 wurde seine Video-Adaption von Albert Camus‘ Die Pest unter dem Titel (MEMENTO) Mor mit dem Preis der Theaterkritik für das beste Lockdown-Theater ausgezeichnet.

(Quelle: drama-panorama.com)

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Geschrieben von

Andre Sokolowski

Andre Sokolowski ist Inhaber, Herausgeber und verantw. Redakteur von "KULTURA-EXTRA, das online-magazin"

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