DES MENSCHEN UNTERHALTSPROZESS GEGEN GOTT

Szenische Uraufführung "Funkoratorium" von B. A. Zimmermann - wiederentdeckt durch die Sing-Akademie zu Berlin u.v.a.

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In den Kölner WDR-Archiven fristete - zumindest bis zum Montagabend dieser Woche - ein bis dahin fast vergess'nes sog. "Funkoratorium" von Bernd Alois Zimmermann (1918-1970), das den nicht gerade unsperrigen Titel Des Menschen Unterhaltsprozess gegen Gott trägt und, lt. Angabe des Schott-Verlages, außer seiner Ursendung am 12. Juni 1952 sowie einer konzertanten Aufführung im Juli 1987 nicht mehr öffentlich gemacht wurde, ein Schlummerdasein. Zimmermann hatte es 34jährig komponiert, zu dieser Zeit waren in Köln, das zehn Jahre zuvor durch jenen "1000-Bomber-Angriff" der Royal Air Force fast total zerstört wurde, die Trümmermale immer noch allgegenwärtig; Zimmermann studierte hier ab 1938 Schulmusik, Musikwisssnschaft und Komposition, ja und auch so war/blieb er nach dem Zweiten Weltkrieg Köln beruflich als wie menschlich stark verpflichtet...

Seine "Prozessionsmusik sollte der Entnazifizierung und Rekatholisierung der deutschen Jugend des Rheinlands dienen. Zimmermann, der 2018 seinen 100. Geburtstag feiern würde, gilt heute als 'an essential and prophetic voice in the history of 20th-century music' (The Guardian). In seinem frühen Funkoratorium experimentiert er mit den gigantischen Chor- und Orchesterapparaten der totalitären Systeme und kontrastiert sie mit Jazz- und Weltmusik, französischem Impressionismus, elektronischer Musik und frühen Verfahren der Collage und Dècollage. Die Allegorien der Jahreszeiten eilen dem gefallenen Adam mit Hammer und Sichel zu Hilfe. Das Welttheater der Renaissance trifft auf sowjetisches Agitgerichtstheater der Zwanziger Jahre (Gericht gegen Gott, Rezvuskin) und die Nürnberger Prozesse der Nachkriegszeit. Wie sich die Selbstjustiz sozialer Netzwerke darin spiegelt? Das wird die 'Kugelgestalt der Zeit' erweisen: 'Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit werden vertauschbar.' (B.A. Zimmermann). (Quelle: sing-akademie.de)

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Die legendäre [1791 von Carl Friedrich Christian Fasch gegründete] Sing-Akademie zu Berlin unter ihrem profunden Chorleiter Kai-Uwe Jirka hatte die Idee, das allgemein doch ziemlich "unbekannte" Werk - auch anlässlich des 100. Zimmermanngeburtstages 2018 - zu reanimieren und (mehr noch:) szenisch uraufführen zu lassen. Ihre Partner dabei wurden das Deutschlandradio [wo der Mitschnitt des Konzertes bald zu hören sein wird] und die Volksbühne Berlin, die nicht bloß für den bühnenbildnerischen Rahmen sorgte, sondern auch mit ein paar ihrer langjährigen Stars, die hier - seit jener vom Kultursenat verantworteten also prinzipiell zerschlagenen Struktur der weltberühmten Institution "Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz" - nicht mehr oder kaum noch sichtbar waren, aufzuwarten wusste: Margarita Breitkreiz, Silvia Rieger und Mex Schlüpfer.

Und egal wierum man es dann sehen wollte - der Besucherandrang war enorm!

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Das anderthalbstündige Stück wechselt dann auch zwischen Musik und Sprechtext; sein Libretto stammt von Hubert Rüttger, der El gran teatro del mundo (zu deutsch: Das große Welttheater) des spanischen Dichters und Dramatikers Pedro Calderón de la Barca (1600-1681) oratorientauglich raffte und entsprechend "kürzte". Es geht also immer hin und her, es wird gesungen und gesprochen, auf und ab...

Außer der Sing-Akademie sind dann noch, was den musikalisch abzuarbeitenden Teil betrifft, die Männer des Staats- und Domchor Berlin sowie das Orchester der Kammersymphonie Berlin anbord.

Dem Ersthörer dieses erstaunlich-merkwürdigen Opus wird v.a. - und das durchgängig - nicht unbedingt bewusst, dass es sich hier um das "Produkt" eines zu seiner Lebzeit und bis heute führenden Vertreters der musikalischen Avantgarde gehandelt haben sollte; Die Soldaten jedenfalls [Welturaufführung: 1965] sind in keiner einzigen Passage dieses Stücks "vorweg genommen", doch das lag wohl auch nicht in der intentiösen Absicht seines Schöpfers. Vielmehr meinte er, bewusst und auffällig das Eine und das Andere früherer Tage, Stile, Werke werkdienlich ziitieren und/oder behandeln zu müssen. Klang und klingt fürwahr nicht schlecht.

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Nina Peller hat ein überdimensionales, allerdings das Stück an sich nicht weiter kommentierendes, Trojanisches Pferd aus schönem hellem Holz auf die Drehbühne gestellt; auf ihm sieht man gelegentlich den einen oder andern Menschen stehen - beispielsweise Hubert Wild (als Johannes der Täufer) oder Kenan Abouaasi (als, auch arabisch singender, Emanuel).

Und Christian Fillips, der Regie führte, bemühte sich zudem sehr engagiert, das insgesamte Personal möglichst im ganzen Saal der Volksbühne (also auch in den Gängen und/oder im Rang) sprechen & singen zu lassen - sogar draußen vor der Tür, weit über eine halbe Stunde vor Beginn der Aufführung, wurde gespielt, und die sich in der Kälte abgeplagt habenden Schauspieler verübten dort ihr Gericht über Gott - Die erste Revision frei nach Jakov Rezvuskin.

Sehr spektakelig das Alles - und auch sehr entdeckenswert.

Wobei: so'n Riesenaufwand für gerade mal zwei Darbietungen??

[Erstveröffentlicht auf KULTURA-EXTRA am 27.11.2018.]

DES MENSCHEN UNTERHALTSPROZESS GEGEN GOTT (Volksbühne Berlin, 26.11.2018)
Musikalische Leitung: Kai-Uwe Jirka
Regie: Christian Filips
Bühne: Nina Peller
Kostüme: Christian Filips, Kostüm-Abteilung
Dramaturgie: Sabine Zielke
Mitarbeit an Buch / Konzeption: Luise Meier
Mit: Kenan Abouaasi, Susanne Bredehöft, Margarita Breitkreiz, Samia Dauenhauer, Aniol Canet Kirberg, Ariel Nil Levy, Ali Nawras, Silvia Rieger, Elias Schockel, Mex Schlüpfer, stefanpaul, Hubert Wild, dem Ensemble PHØNIX16, dem Haupt- und Mädchenchor der Sing-Akademie zu Berlin, den Männern des Staats- und Domchors Berlin, der Kammersymphonie Berlin und Faleh Khaless (Oud)
Szenische Uraufführung war am 26. November 2018.
Eine Koproduktion mit der Sing-Akademie zu Berlin und Deutschlandradio

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Geschrieben von

Andre Sokolowski

Andre Sokolowski ist Inhaber, Herausgeber und verantw. Redakteur von "KULTURA-EXTRA, das online-magazin"

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