DIE BRÜDER KARAMASOW an der Volksbühne Berlin

Castorfopern Langjähriger Dostojewski-Zyklus komplettiert | Berliner Premiere der Koproduktion mit den Wiener Festwochen

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

http://www.kultura-extra.de/templates/getbildtext.php?text_id=8972


Mit Dämonen fing es 1999 an - und jetzt, nach mittlerweile 16 Jahren, hat Frank Castorf seinen großen Dostojewski-Zyklus mit Die Brüder Karamasow abgeschlossen; sieben theatralische Totelbeschäftigungen, sieben Mal der großäugige Blick ins dicke Buch, sieben Versuchungen der konsequenten Rücksichtslosigkeit (der Prosa und dem Publikumsgemenge gegenüber). Dass das über sechsstündige Großprojekt über die Wiener Festwochen-Premiere nicht hinausgekommen war und also die drei Folge-Aufführungen krankheitshalber abgesagt wurden, zeugte und zeugt von den Gewaltzumutungen, mit denen es die Ausführenden - immer oder meistens, wenn sie mit dem Castorf dessen Riesenstücke abarbeite(te)n - zu tun haben. Schauspielerei wurde und wird bei ihm zumeist eine Verschleißsache; es grenzt mithin fast an ein Wunder, dass ein harter also resistenter Kern des Volksbühne-Ensembles ihm seit Jahren (und Jahrzehnten) absolut die Treue hält. Liebesbeweise sind das, was denn sonst?!

"Fjodor Dostojewskijs als Kriminalgeschichte angelegter letzter großer Roman", schreibt Sebastian Kaiser auf volksbuehne.de,"blättert polyphon die bis heute in frappierender Weise gültigen weltanschaulichen und philosophischen Stimmen der Systeme in West (Liberalismus) und Ost (Orthodoxie) auf. Es sind die letzten Fragen des Seins, vom Gottmenschen und von der idealen Gesellschaft, denen Dostojewskij anhand des Mordes an der Vaterfigur Fjodor Karamasow und der anschließenden Verdächtigungen der Söhne Dmitri, Iwan und Aljoscha folgt. Motor, um sich immer mehr in einem Labyrinth aus Gefühl und Gesetz zu verstricken, ist nichts Geringeres als die Liebe – hier zur Femme fatale Gruschenka. Dostojewskij ist ein Vertreter der Moderne und weiß, die Liebe braucht das Geld – konkret 3000 Rubel – wie das Feuer die Luft."

Ich hatte den Roman als Pubertierender gelesen. Heute kann ich mich nur äußerst denkschwach und sehr dünnfetzig an das erinnern, was da zwischen den zwei/vier Buchdeckeln alles so geschrieben stand.

Die Brüder Karamasow wären - wieder lt. des volksbuehne.de-Eintrags - "ein Argumentationsbuch, seine Protagonisten monologisieren." Stimmt bestimmt, ja... Ich erinnere mich plötzlich an das Eine und das Andere.

Es führt zu nichts, die eigene Lektüre mit Gesehenem/Gehörtem auf der Bühne aufzuwiegen, es kommt - wenn man Castorfs Bucherfahrungen derart begegnete - nichts Inspirierendes für einen selber dabei raus. Am besten sind wohl diejenigen dran, die nicht den ganzen Kram vorher gelesen haben und die willig (und möglichst "analphabetisch") allgemein-unschuldig Neugier wie (natürlich) physisch-strapazierfähige Ausdauer mitbringen. Wird man bei sechs Stunden Spielzeit wohl erwarten können, oder?

*

Bert Neumann (1960-2015) wollte, dass das Volksbühne-Parkett zuasphaltiert wird und statt Sessel Jutesäcke Sitz-/ Liegegelegenheiten bieten. Und paar Stuhlreihen gibts auch, und bis zum Rang (wo sesselmäßig alles so geblieben ist wie's immer ist) führt seitlich dann eine Metalltreppe in einen schwarzen Wohncontainer ("Zimmer frei" blinkt ständig auf). Das ist einer der vier oder fünf Rückzugsgebiete für die Schauspieltruppe, wo es die bewährten Video-Innenaufnahmen mit ihnen gibt; selbst eine echte Saune hat der Neumann ins Parkett gebaut. Die jeweils abgeschlossnen Räume sind durch einen ellenlangen Holzbretterzaun verbunden, der bis über die Drehbühne langt und vor dem die hinlänglich bekannte und erwartete Nass-Plansch-Zone sich auftut. Es gibt Platz genug zum Hin- und Herrennen. Ja und das insgesamte Rumgeschreie der Akteure ist - durch diese bühnenbauliche Anordnung - diesmal etwas näher an dem wohl geneigten Ohr des sichtlich aufmerksamen und hell wachen Publikums als sonst bei Castorf/Neumann. Alle Live- und auch die vorher archivierten Filme finden Platz auf einer imposanten Riesenleinwand. Die von Deinert/Klütz/Lamande/Crull besorgten Nahaufnahmen der Protagonisten lassen derart "in die Tiefe" blicken, dass man stellenweise auch ganz ohne Textvermittlung wüsste, worum es hier eigentlich dann wirklich geht; und ich vermute mal, es ist die (auch bei Dostojewski) nachprüfbare Grundaussage: Dass der Mensch die Knute braucht und so, als Umkehrschluss, mit sog. Freiheit nicht viel anzufangen weiß; daher ja auch die exterritoriale Prosa in der Prosa: Der Großinquisitor (= 5. Kapitel aus den Brüdern Karamasow).

Der phänomenale Alexander Scheer spricht/spielt die Rolle justament vom Dach der Volksbühne, direkt unter den OST-Leuchtlettern, und im Angesicht einer sich nach und nach verewigenden Abenddämmerung über Berlin. Das war schon stark zu sehen und zu hören!

Doch auch live-direkt im Raum, also von live-direktem Angesicht zu Angesicht (spart man die tollen Videos kurz mal aus) sind die Akteure - allesamt - eine sich bei uns einbrennende Augen- als wie Ohrenweide. Scheer, Marc Hosemann und Daniel Zillmann übertreffen sich mit ihren Brüderrollen gegenseitig. Hendrik Arnst verkörpert den partout nicht (fast nicht) tot zu kriegenden Brutal- und Übervater Fjodor Pawlowitsch. Auch Patrick Güldenberg (Rakitin) und Frank Büttner (Vater Ferapont) mischen kampfkörperlich, gewaltphonetisch kräftig mit.

Vier Superfrauen, auch:

Jeanne Balibar muss gleich mal drei diverse Rollen spielen: den dahinsiechenden Starez und die Chochlakowa; ja und letztlich liefert sie sich - als der Teufel - mit dem Scheer (der Holbeins Toten Jesus mit sich rumschleppt) einen Schlagabtausch um grundsätzliche Wertefragen. Hochgrandiose Szene!

Sophie Rois ist Pawel, Kathrin Angerer ist Gruschenka, Lilith Stangenberg ist Werchowzewa und Margarita Breitkreiz die am Rollstuhl gefesselte Lisaweta...

* * *

Man kann/muss zwischendurch (6 Stunden, immerhin) kurz abschalten und auf dem Jutesack so vor sich hin dämmern - sobald man wieder fit ist, kommt man schnell in diese Mordsgeschichte wieder rein.

Kurzweiliges Großbühnenfestspiel.


http://www.kultura-extra.de/templates/getbildtext2.php?text_id=8972

[Erstveröffentlichung von Andre Sokolowski am 09.11.2015 auf KULTURA-EXTRA]

DIE BRÜDER KARAMASOW (Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, 08.11.2015)
Regie: Frank Castorf
Bühne und Kostüme: Bert Neumann
Licht: Lothar Baumgarte
Kamera: Andreas Deinert, Mathias Klütz und Adrien Lamande
Videoschnitt: Jens Crull
Musik: Wolfgang Urzendowsky
Ton: Klaus Dobbrick
Tonangel: William Minke und Dario Brinkmann
Dramaturgie: Sebastian Kaiser
Mit: Hendrik Arnst (Fjodor Pawlowitsch Karamasow), Marc Hosemann (Dmitrij Fjodorowitsch Karamasow), Alexander Scheer (Iwan Fjodorowitsch Karamasow), Daniel Zillmann (Alexej Fjodorowitsch Karamasow), Sophie Rois (Pawel Fjodorowitsch Smerdjakow), Kathrin Angerer (Agrafena Alexandrowna Swetlowa (Grusenka)), Lilith Stangenberg (Katerina Iwanowna Werchowzewa), Jeanne Balibar (Starez Sossima, Katerina Ossipowna Chochlakowa und der Teufel), Patrick Güldenberg (Michail Ossipowitsch Rakitin), Margarita Breitkreiz (Lisaweta Smerdjastschaja) und Frank Büttner (Vater Ferapont)
Premiere zu den Wiener Festwochen war am 29. Mai 2015
Berliner Premiere: 6. 11. 2015
Weitere Termine: 14., 20., 22., 27., 29. 11. / 18., 20. 12. 2015
Koproduktion der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz mit den Wiener Festwochen

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Andre Sokolowski

Andre Sokolowski ist Inhaber, Herausgeber und verantw. Redakteur von "KULTURA-EXTRA, das online-magazin"

Andre Sokolowski

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden