DIE VÖGEL an der Bayerischen Staatsoper

Premierenkritik Frank Castorf inszenierte, Ingo Metzmacher dirigierte, und im Nationaltheater München gehen übermorgen (2. 11.) wiederum - wegen Corona - einen Monat lang die Lichter aus

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Die Vögel (als Titel) assoziieren sich dem allgemeinen Bildungsbürger nicht ganz unselten mit Hitchcocks gleichnamigem Film. So könnte es wohl auch Frank Castorf gegangen sein, als er sich jetzt auf den Regieauftrag der Bayerischen Staatsoper, wo er mit Janáčeks Aus einem Totenhaus 2018 debütierte, eingelassen hatte [s. Foto unten] - und ganz selbstverständlich wusste er als einer der gebildetsten also belesensten Künstler der Gegenwart genau, was er da inszenieren tat; und trotzdem hatte man beim Gucken in die Glotze irgendwie so das Gefühl, das Stück an sich [es ist, ganz nebenbei bemerkt, ein miserabeles Libretto, was sich da ihr Dichterkomponist für die Musik zurechtschrieb] hatte ihn nicht sonderlich interessiert:

"Es ist sprichwörtlich geworden: das 'Wolkenkuckucksheim' der antiken KomödieDie Vögelvon Aristophanes. In unübertrefflicher Hybris glauben die Vögel, sich mit den Göttern anlegen und einen eigenen mächtigen Staat aufbauen zu können, der die Götter quasi verhungern lassen soll. Was für ein Irrtum – vermessen und lächerlich-lachhaft zugleich, mit bitterem Ende für die Rebellen.

Für den Komponisten Walter Braunfels war die Uraufführung seiner Adaption des antiken Stoffes in München 1920 der große Durchbruch. Ein riesiger Erfolg, dem allein in München 50 Vorstellungen folgten! Seine Version ist eigenständig und eigenwillig: Braunfels fügt dem Werk trotz Komödienhaftigkeit einen zutiefst romantischen Zug hinzu. Das neue Gemeinwesen der Tiere versteht Braunfels nicht nur politisch, sondern auch künstlerisch und schwärmerisch: Das Scheitern des neuen Staates ist nicht allein der Machtgier, sondern zugleich einer missverständlichen Idealisierung geschuldet. Der antike Mythos ist gespiegelt an den traurigen Erfahrungen aus einer Welt von Gestern. Die Trümmer des Ersten Weltkrieges sind für Braunfels überall sichtbare Zeichen des politischen wie geistlichen Zerfalls, seine Oper ist ein letztes emphatisches Aufbäumen gegen die Brüche der Gegenwart. Nach hundert Jahren folgt nun die erste Neuproduktion am Ort der Uraufführung." (Quelle: staatsoper.de)

Ich wollte - zur Vervollständigung unserer KE-Reihe der CASTORFOPERN - bei der ersten Vorstellung nach der Premiere live vor Ort sein; der ab übermorgen geltende zweite Corona-Lockdown vereitelte die Münchenreise. Klitzekleiner "Vorteil" dieser insgesamten Großpleite (nicht nur für mich) war, dass ich justament den Livestrem der Premiere bereits heute Abend mitverfolgen konnte. Also:

Eingebetteter Medieninhalt

Vom Kostümdesign her scheint die Aufführung das bisherige Nonplusultra aller jemaligen Federviehklamotten gewesen zu sein, die Adriana Braga-Peretzki, seit sie für den Castorf alle Haute Coutures erledigte, kreierte - blieb gewiss zu hoffen, dass da keine echten Dinge aus der schützenswerten Vogelwelt als Materialien dienten.

Auf der Drehbühne von Aleksandar Denić waren unterschiedlich zuzuordnende Versatzstücke, die im Bezug zu Diesem oder Jenem standen (Hitchcocks Vögel, wie bereits erwähnt, oder ein Airport Surveillance Radar, ein Beutegut-Container, eine Gartenlaube inkl. Gartenzaun à la My-home-is-my-castle und noch anderes), entdeckbar - in dem Livestream, der sich ganz erwartungsgemäß mehr auf die Nahaufnahmen von diversen Mitwirkenden fokussierte, war das leider immer nur ganz kurz zu sehen; sowieso lässt sich mit dieser Art von "willkürlicher" Nachbereitung die Ästhetik Castorfs, die v.a. auch darin besteht, sich mittels eingespielter Videos oder Livefilme, die auf den "oberen" Leinwänden zusätzlich zum Anblick der Totale "unterhalb" mitlaufen, für die Nah- oder die Fernsicht zu entscheiden, was dann auch für Kurzsichtige jedesmal von Vorteil war und ist.

Die handverlesenen Gesangssolistinnen sowie Gesangssolisten und das Bayerische Staatsorchester inkl. Chor der Bayerischen Staatsoper (Choreinstudierung: Stellario Fagone) standen unter der Gesamtleitung von Ingo Metzmacher; er ist ein expertiser Kenner der Materie, nicht nur für die Ära um den Braunfels!

Im vom Stil her zwischen Strauss und Korngold und 'nem Häppchen Debussy sich nicht entscheiden könnenden Zweiakter gibt es, ungeachtet des Durchkomponiertseins, teils betörend schön klingende Extra-Blöcke, so zum Beispiel die fast 40 Minuten andauernde Liebesszene zwischen Hoffegut (Charles Workman) und der Nachtigall (Caroline Wettergreen) im zweiten Akt; dass Castorf diesem sinnbildlichen Hymnus an die Unberührtheit der Natur nicht mehr als sexualisierend beizukommen wusste, sprach mehr für statt gegen seinen Sinn für ungeschönten Bio-Realismus.

Auch Michael Nagy (als Ratefreund mit SS-Sturmbandführer-Attitüde), Günter Papendell (als menschgewesener und wieder menschgeword'ner "Obervogel" Wiedehopf) und Wolfgang Koch (als stockbesoff'ner Prometheus-Gescheiterter) verdienen ob ihrer gesanglichen und mehr noch schauspielernden Leistungen die dreifach deutlichste Erwähnung!!! Letzgenannter zählt dann übrigens zum Altbekanntenkreis des Regisseurs, mit ihm hatte er hochgrandios den letzten Bayreuth-Ring zu exerzieren gewusst; daher auch die besonders herzliche Umarmung der zwei Durchgetesteten am Ende.

* *

Eine Hundertschaft an Mitwirkenden spielte immerhin dann nicht vor gänzlich leerem Haus, obgleich der Livestream von jenen angeblich 50 anwesenden Zuschauerinnen und Zuschauern nicht eindeutig etwas vermittelte - - bloß lauter leere Sitzreihen; aber ihr Beifall und ihr Beifallstrampeln waren letztlich doch unüberhörbar.

Wann geht der Corona-Spuk endlich vorüber?

[Erstveröffentlicht auf KULTURA-EXTRA am 31.10.2020.]

DIE VÖGEL (Bayerische Staatsoper, 31.10.2020)
Musikalische Leitung: Ingo Metzmacher
Inszenierung: Frank Castorf
Bühne: Aleksandar Denić
Kostüme: Adriana Braga Peretzki
Licht: Lothar Baumgarte
Video: Stefanie Nirschl und Andreas Deinert
Live-Schnitt: Timo Raddatz
Chor: Stellario Fagone
Dramaturgie: Rainer Karlitschek
Besetzung:
Prometheus ... Wolfgang Koch
Wiedhopf, einstens ein Mensch, nun König der Vögel ... Günter Papendell
Nachtigall ... Caroline Wettergreen
Zaunschlüpfer ... Emily Pogorelc
1. Drossel ... Yajie Zhang
2. Drossel ... Eliza Boom
Adler ... Bálint Szabó
Rabe ... Theodore Platt
Flamingo ... George Vîrban
Hoffegut ... Charles Workman
Ratefreund ... Michael Nagy
Chor der Bayerischen Staatsoper
Bayerisches Staatsorchester
Premiere war am 31. Oktober 2020.
Live-Stream der Premiere auf staatsoper.tv

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Geschrieben von

Andre Sokolowski

Andre Sokolowski ist Inhaber, Herausgeber und verantw. Redakteur von "KULTURA-EXTRA, das online-magazin"

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