"DISTANCE / INTIMACY" im Pierre Boulez Saal

Live-Streams A FESTIVAL OF NEW MUSIK, kuratiert von Daniel Barenboim und Emmanuel Pahud

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In der zweiten Juliwoche gab es an vier aufeinander folgenden Abenden je einen Livestream aus dem Pierre Boulez Saal in Berlin, der außer auf boulezsaal.de zeitgleich auf Youtube, Facebook und ARTE Concert übertragen wurde. Die Konzerte mit kammermusikalischen Werken von Boulez sowie zehn weiteren Komponistinnen und Komponisten unserer Tage (allesamt mit jeweils einer Uraufführung vertreten!) "erfassten" sage und schreibe 140.000 Zuschauer, drei Viertel von ihnen außerhalb von Deutschland. A FESTIVAL OF NEW MUSIC hieß die Reihe und stand unter dem Motto DISTANCE / INTIMACY - hatte also umkehrschlüssig mit Corona und der zu der Zeit noch immer anhaltenden (und behördlichen) Verunmöglichung von Veranstaltungen mit Besuchern - je nach ländlichen und häuslichen Gegebenheiten - indirekt zu tun; auch für den weltberühmten Pierre Boulez Saal sind noch immer keine Ideallösungen da, um ihn ab kommender Saison direkt-menschlich (will sagen: leiblich) auf den zwei elypsenen Balkonen und darunter zu "bestücken"; der Konzertplan steht zwar schon, doch Ticketanfragen landen vorerst auf sog. Wartelisten.

Hausgründer und Akademiepräsident Daniel Barenboim sowie Emmanuel Pahud (Soloflötist der Berliner Philharmoniker) fungierten bei dem Festival als Kuratoren; und mit dem Boulezsaal-Dramaturgen Philipp Brieler taten sie die vier jeweils voraufgezeichneten Konzerte sachverständig und nicht minder unterhaltend als plauderndes Talk-Trio umrahmen; es gab außerdem diverse Statements und/ oder Live-Zuschaltungen der uraufgeführten KomponistInnen.

"Ich bin glücklich und stolz, dass all diese großartigen Komponistinnen und Komponisten so schnell und mit so viel Begeisterung auf unsere Idee reagiert haben. Im Moment vergeht kein Tag, an dem ich mich nicht frage, wie wir den Wert von Musik für uns als Einzelne und als Gemeinschaft unterstreichen können. Wie schaffen wir es, den Reichtum, den ich als Kind in der Musik fand, auch für die Zukunft zu sichern? Hierfür brauchen wir das entschlossene Handeln der Politik. Meine Erfahrung als Musiker zeigt aber auch, dass Kunst am überzeugendsten für sich selber spricht: Wenn wir die Möglichkeit haben, unserem Schmerz und unserer Unsicherheit Ausdruck zu verleihen und die tiefsten Schichten unseres Menschseins zu berühren." (Daniel Barenboim)

Alle vier Streams sind noch bis 12. 8. unentgeltlich auf der Homepage vom Boulezsaal abrufbar - wir hatten sie uns jetzt [auch weil wir zu den jeweiligen Live-Ausstrahlungen unabkömmlich gewesen waren] nachträglich hereingezogen. Hier paar hörerische Kurzeindrücke zu den Uraufführungen:

Eingebetteter Medieninhalt

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Sphinxes heißt das ca. 8 Minuten andauernde Albumblatt von Johannes Boris Borowski; stetig wird man in ihm Ohrenzeuge eines mit dem Violoncello erzeugten Aufatmens und Aufstehens und Aufwachens - etwa von Ödipus? Er war es schließlich, der das sagenhafte Sphinx-Rätsel à la "Was ist es, das mit einer Stimme begabt, bald vierbeinig, zweibeinig und dreibeinig wird?" (Antwort: Mensch) gelöst hatte; doch bei Borowski gab und gibt es immerhin gleich mehr als eine dieser Würgerinnen, also nicht allein diese alleinige.

Genauso mythologisch sind die Eumeniden von Irini Amargianaki. In ihrem über eine Viertelstunde lang griechisch gesung'nen Monodram mit üppiger Instrumentalbegleitung lässt die Komponistin Klytämnestras Mutterwesen und -gefühle hochemotionalerweise aufblitzen; mitunter glaubt man gar Zitaten aus der Rachearie von derZauberflöte-Königin der Nacht gelauscht zu haben. Sehr, sehr eindrucksvoll als Ganzes.

Michael Jarrell hat sich, beinahe philosophisch, mit dem "Punkt als Alles-Ursprung" (so die ungefähre Übersetzung seines 10-minütigen Solos für Flöte „Le Point est la source de tout...“) auseinandergesetzt, ja und Emmanuel Pahud entspricht dem hochtrabenden Anspruch auf das Virtuoseste.

Vom über Zoom live in den Pierre Boulez Saal zugeschalteten und überwiegend in New York lebenden Komponisten und Kapellmeister Matthias Pintscher wird die viertelstündige adaption eines schier zwingend-zeitlosen Lieds der Simon & Garfunkel - beyond II (bridge over troubled water) - urgesendet; dieses Werk hat nach den ersten beiden Dritteln Dauer eine deutliche Zäsur, weswegen auch der laienhafte Hörer auf ein strukturelles Zweigeteiltsein tippt.

Von Luca Francesconi stammen Lichtschatten; binnen vier oder fünf Minuten gibt es jede Menge Vogel- oder anderweitige Tier- und Naturlaute zu hören, und wir nahmen an, dass das auch so oder so ähnlich von dem Tonsetzer gemeint gewesen war, oder?

Philippe Manoury zeichnete Soubresauts (dt.: "Stöße") für die Flöte solo aufs Notenpapier; Pahud vermag mit diesem Achtminüter abermals zu demonstrieren, was für ein Perfektionist und "magischer Vollstrecker" er auf seinem Instrument war, ist und bleibt.

Die Kompliziertheit des von Olga Neuwirth für ihren zum Thema Covid 19 komponierten (zweisätzigen?) Tonsatz coronAtion II: Naufraghi del mondo che hanno ancora un cuore ausgedachten Stücktitels schreckt auf den ersten Blick verirritierend ab, kennt man die Übersetzung ("Schiffwracks der Welt, die noch ein Herz haben" o.s.ä.), scheint die Angelegenheit etwas befriedeter zu werden; Barenboim sitzt in der Mitte am Klavier, das restliche Quartett verharrt und musiziert (während des ersten Teils) auf den vier Treppengängen - bis die Vier, die Treppenstufen allmählich hinunter schreitend, sich mit Barenboim (während des zweiten Teils) zusammentun und eine Art von Habanera spielen, und das Alles hatte was von Filmmusik zu einer Doku über einen Auto-, Flugzeug- oder Schiffsfriedhof gehabt, siehe nochmals den Titel.

Benjamin Attahir hat Bayn Athnyn (dt.: "zwischen zweien") den mit ihm befreundeten zwei Barenboims, Vater & Sohn, gewidmet; Michael spielt in dem Stück außer auf seiner Violine auch noch auf der Bratsche, ja und Daniel (klarer Fall) spielt halt dann in dem Stück Klavier; 14 Minuten dauert es, aber der außerprivatime Zugang für uns "Außenstehende" will sich partout nicht einstellen, wir wissen einfach nicht, woran das liegt.

Bei Christian Rivets melancholisch-melodiösem Flötensolo Terre d'ombres (dt.: "Land der Schatten") tut man irgendwie und nicht ganz unzwangsläufig mit Orpheus' Hinabstieg in die Unterwelt assoziieren.

Schließlich noch Jörg Widmanns kurzweiliger und gerade mal sieben Minuten dauernder empty space (= Freiraum), den die Ausführenden wohl erhaben und vor allem unhektisch - von wegen "In der Ruhe liegt die Kraft" - akustisch auszufüllen sich bemüßigen; Widmann, der außer Komponist auch noch Klarinettist ist, ist ein mitwirkendes Kettenglied am eignen Stück, zuletzt war seine Oper Babylon im Haus Unter den Linden sehr erfolgreich nachgespielt worden.

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Summa summarum schien das Online-Festival am Ende irgendwie Pahud-lastig (allein 3 dem Emmanuel ausschließlich zugeeignete und von ihm höchstpersönlich erstgespielte Flöten-Soli!!!) gewesen zu sein, aber egal; die Ausrichtenden und Ideengeber derartiger Hochleistungsevents pflegen zurecht bei so etwas zu "profitieren", und warum auch nicht?!

[Erstveröffentlicht auf KULTURA-EXTRA am 18.07.2020.]

A FESTIVAL OF NEW MUSIC (Pierre Boulez Saal, 09.-12.07.2020)

9. Juli

Pierre Boulez (1925-2016): Sonatine für Flöte und Klavier
Emmanuel Pahud (Flöte) und Daniel Barenboim (Klavier)
Johannes Boris Borowski (*1979): Sphinxes für fünf Spieler (UA)
Jiyoon Lee (Violine), Volker Sprenger (Viola), Alexander Kovalev (Violoncello), Giuseppe Mentuccia (Klavier) und Dominic Oelze (Schlagzeug); Barenboim (Dirigent)
Irini Amargianaki (*1980): Eumeniden für Sopran und Ensemble (UA)
Sarah Aristidou (Sopran), Pahud, Fabian Schäfer (Oboe), Tibor Reman (Klarinette), Lee, Astrig Siranossian sowie Tido Frobeen, Simon Etzold, Oelze, Moisés Santos Bueno (Schlagzeug); Barenboim (Dirigent)

10. Juli
Boulez: Messagesquisse für Violoncello solo und sechs Violoncelli; Bearbeitung für Bratschen von Christophe Desjardins
Yulia Deyneka (Solo-Viola) sowie Joost Keizer, Sprenger, Mathis Rochat, Shira Majoni, Katrin Spiegel und Anna Lysenko (Violen); Barenboim (Dirigent)
Michael Jarrell (*1958): „Le Point est la source de tout...“ für Flöte solo épitome II (UA)
Pahud
Matthias Pintscher (*1971): beyond II (bridge over troubled water) für Flöte, Viola und Harfe (UA)
Pahud, Deyneka und Aline Khouri (Harfe)
Luca Francesconi (*1956): Lichtschatten für Flöte und Ensemble (UA)
Pahud, Michael Barenboim (Violine), Kovalev, D. Barenboim (Klavier) und Oelze

11. Juli
Boulez: Mémoriale (... explosante-fixe ... Originel) für Flöte und Ensemble
Lee, Sarah Jégou-Sageman, Petra Schwieger (Violinen), Sprenger, Spiegel, Siranossian sowie Ignacio Garcia und Sebastian Posch (Hörner); Barenboim (Dirigent)
Philippe Manoury (*1952): Soubresauts für Flöte solo
Pahud
Olga Neuwirth (*1968): coronAtion II: Naufraghi del mondo che hanno ancora un cuore für 5 Instrumente cinque isole della fatica
Pahud, Matthias Glander (Klarinette), Lee, Deyneka und Barenboim (Klavier)
Benjamin Attahir (*1989): Bayn Athnyn für Violine (Viola) und Klavier
M. Barenboim und D. Barenboim

12. Juli
Boulez: Dérive 1 für sechs Instrumente
Pahud, Reman, M. Barenboim, Siranossian, Mentuccia und Oelze; D. Barenboim (Dirigent)
Christian Rivet(*?): Terre d'ombres für Flöte solo
Pahud
Jörg Widmann (*1973): empty space für fünf Spieler
Pahud, Jörg Widmann (Klarinette), M. Barenboim, D. Barenboim und Oelze


https://boulezsaal.de/

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Geschrieben von

Andre Sokolowski

Andre Sokolowski ist Inhaber, Herausgeber und verantw. Redakteur von "KULTURA-EXTRA, das online-magazin"

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