Frank Castorf und DER HAARIGE AFFE

Premierenkritik Unter- und Oberschichten-Spektakel am Deutschen Schauspielhaus Hamburg

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Der Desillusionierungsgrad Frank Castorfs, was sein Zukunftsbild für die westliche Zivilisation (in den hiesigen Demokratien des Kapitals, des Markts) betrifft, scheint - und nachdem er sich von seinem VB-Dethronisationsschock mittlerweile irgendwie erholt haben dürfte - noch viel mehr als vorher (also seit er inszeniert) mit urkindlicher Spiellust und entwaffnender Humorbereitschaft durchgewürzt zu sein. Das hört und sieht man beispielsweise in den beiden jüngsten Media-Dokumenten, die der NDR sowie das Deutsche Schauspielhaus ins Internet verfrachteten; zum Einen ist es jenes sein politisches als wie privates "Innenleben" herhäppchendes Interview, zu welchem ihn Frau W. (arg hörbar überfordert) bat, zum Anderen jenes live mitgeschnitt'ne Konzeptionsgespräch des Regisseurs kurz vor der vorjährigen Weihnachtszeit an Ort und Stelle, wo er jetzt und gestern Abend die umjubelte Premiere seines neuerlichen Multi-Krachers - Der haarige Affe - erfahren und erleben konnte.

Das titelgebende Stück des US-amerikanischen Dramatikers und Literaturnobelpreisträgers Eugene O'Neill (1888-1953) ist Hauptquelle des reichlich fünfeinhalbstündigen Großprojekts. Dessen weitere zwei Stücke Kaiser Jones und Der große Gott Brown sowie Gedichte und lyrische Prosa aus den Sammlungen Das trunkene Schiff und Ein Aufenthalt in der Hölle von Arthur Rimbaud (1854-1891) dienen mit mehr oder weniger großen Zitaten und Verweisen ebenso als paralleles Quellen-Material. Ein bunter Abend also mit viel Hin und Her und Vorwärts und Zurück und/oder all dem Hochgeordnet-Durcheinanderen, so wie wir es seit eh und je vom guten alten Castorf kennen und wofür wir ihn so furchtbar lieben:

Als so'n Hauptplot kristallisiert sich die Geschichte vom Schiffseinheizer Yank heraus. Dieser wird von der Millionärstochter Mildred Douglas, die sich oben auf dem Luxusdeck des Liners langweilt und deswegen in die Schiffseinheizerhölle (nicht nur weil sich's unten in der Schiffseinheizerhölle viel, viel wärmer noch als oben in der Millionärstochtergefühlskälte anfühlt) herunterexkursiert, bedrängt. Das schauspielernde Traumpaar Charly Hübner / Lilith Stangenberg verleiht den sexuell je aneinander Ausgehungerten eine nach Haut & Haar gierende Doppelstimme; Stangenberg gefällt ihr temporäres Schiffseinheizerdasein derart gut, dass sie sich allzu plötzlich ihres Millionärstochterfummels entledigt und so splitternackt zur Kohlenschaufel greift - ein hübsches Beispiel auch für ausgelebte Männerfantasien; die zwei Live-Kameramänner Andreas Deinert & Severin Renke wissen das durch schöne Großaufnahmen filmisch abzugreifen. // Das proletarische Schiffseinheizerumfeld wird von dem genial sich bis zur alkoholischen Totalverblödung aufgeilenden Josef Ostendorf [des 2015er Übervaters in Jahnns Pastor Ephraim Magnus hier am selben Haus] de facto "angeführt"; doch auch die anderen steh'n da auf kongeniale Weise ihrem Mann...

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Interessanter noch und psychologisch, um nicht gar zu sagen psychoanalytisch, ausschweifender kommt der Sonder-Stückplot hinsichtlich des merkwürdigen Mann-Mann-Frau-Dreiers zwischen Joey, William, Margaret zu uns Text(un)kundigen 'rüber; ich bemerkte da z.B. einen stillverschämten Wink mit Zaunspfahl, der auf das nicht minder merkwürdige Mann-Mann-Frau-Gespann Rimbaud-Verlaine-Verlainegattin hinzielen hätte können. Jedenfalls war das entsprechende Stück-Personal mit dem agil-papierleichten Paul Behren und dem diven-raumgreifenden Daniel Zillmann wie auch der (in diesem Sonderfall) nurmehr statisterierend mitwirkenden Anne Müller ideal besetzt!!!

Die anfangs etwas kompliziert introduktierte Kaiser Jones-Geschichte mit Marc Hosemann (als Brutus), Abdoul Kader Traoré (als Smitty) und der kurzfristig für die erkrankte Thelma Buabeng (als Cybel) eingesprung'nen Kathrin Angerer entschlüsselt und verdeutlicht sich nur nach und nach... Tatsächlich wusste ich dann bis zum insgesamten Sendeschluss noch immer nicht so richtig, wer warum was wie in welcherlei Zusammenhang entäußern tat - aber das stört in allen diesen schönen Castorfopern sowieso dann meistens nicht.

Michael Weber (als Gewerkschaftssekretär) liefert im Übrigen sich, uns und Charly Hübner (als Ex-Schiffseinheizer) einen an Zirzensik grenzenden Ölfässer-"Auftritt" mit viel, viel, viel Monologtext... Null Erinnerung im Nachhinein, worum's da ging.

Die ungeizige Ausstattung erzauberten der Bühnenbildner Aleksandar Denić, die Kostümdesignerin Adriana Braga Peretzki.

Dramaturg Patric Seibert stellte ein die konzeptionellen Ausfransungen rückbündelndes als wie -bindendes Programmheftlein (mit einem lesenswerten eignen Beitrag: Kaiser, Affe, Gott) zusammen!

Und wahrscheinlich nicht bloß bei den coolen Hamburgern sprich Hanseaten kommt die neue Castorf-Chose allerprächtigst an.

[Erstveröffentlicht auf KULTURA-EXTRA am 18.02.2018.]

DER HAARIGE AFFE (Deutsches Schauspielhaus Hamburg, 17.02.2018)
Regie: Frank Castorf
Bühne: Aleksandar Denic
Kostüme: Adriana Braga Peretzki
Licht: Lothar Baumgarte
Dramaturgie: Patric Seibert
Künstlerische Produktionsleitung: Sebastian Klink
Video- und Livemitschnitt: Marcel Didolff, Alexander Grasseck und Marek Luckow
Video-Assistenz: Verena Buttmann
Live-Kamera: Andreas Deinert und Severin Renke
Sounddesign: Dominik Wegmann
Tonangler: Michael Genter und Jochen Laube
Ton: André Bouchekir, Jesper Bryngemark und Roman Schneider
Mit: Kathrin Angerer, Paul Behren, Marc Hosemann, Charly Hübner, Abdoul Kader Traoré, Anne Müller, Josef Ostendorf, Lilith Stangenberg, Michael Weber, Samuel Weiss und Daniel Zillmann
Premiere war am 17. Februar 2018.
Weitere Termine: 21.02. / 04., 26.03.2018

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Geschrieben von

Andre Sokolowski

Andre Sokolowski ist Inhaber, Herausgeber und verantw. Redakteur von "KULTURA-EXTRA, das online-magazin"

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