Frank Castorfs DIE KABALE DER SCHEINHEILIGEN

Premierenkritik Bulgakow und Moilière (und noch viel mehr) in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz

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Gut, dass die Ostberliner Volksbühne-Latte so hoch gehalten wird. Noch besser, dass sie derart hoch und unerklimmbar (sicherlich unüberwindbar!) prangt, dass potenzielle Nachfolger - selbst wenn sie sich gar unter ihr im Durchkriechgang versuchten - hexenschussgeplagt besser den Arzt aufsuchten als sich willentlicher Weise zu verheben...

Unser Bretter-die-die-Welt-bedeuten-Lieblingsguru Frank hat wieder zugeschlagen und die neue Steilvorlage zur beliebten Reihe CASTORFOPERN gestern Abend präsentiert:

"Molière spielt vor seinem Gönner und Kritiker Ludwig XIV., wie er als Molière vor Ludwig XIV. spielt. Das Stegreifspiel von Versailles. Aufgeführt 1663. Eine Iterationsperformance von Realität über das Verhältnis von Künstler, Staat und Zensur. Unter russischen Bedingungen zitiert Michail Bulgakow die Biographie des französischen Theatermanns. Er schreibt das Stück Die Kabale der Scheinheiligen. Zensiert 1931, erstmals in Moskau aufgeführt 1936. Molière ist Bulgakow, Ludwig XIV. ist Stalin. Und heute? Frank Castorf holt den Text mit seiner doppelten historischen und politischen Referenz in die Gegenwart des Alles-ist-erlaubt der liberalen Gesellschaft. Wer ist nun wer?
(Sebastian Kaiser auf volksbuehne-berlin.de)

Die Kabale der Scheinheiigen. Das Leben des Herrn de Molière geriet zu einem der wohl besten und geschlossensten sprich "runden" Fünfstünder [als die Premiere aus war, zeigte meine Uhr erst 0:28 Uhr], den Frank Castorf in der letzten Zeit hervorhiefte. Er war - ja und obwohl gleich zu Beginn während der deklamierten Ouvertüre, die aus einem einleitenden auktorialen Text, den Sophie Rois, die Michaill Bulgakow darstellte, bestand, fast eine Viertelstunde nebelige Dunkelheit auf weiter Flur geherrscht hatte - voll nachgereichtem Lichts und ausufernder Farbe. Seine insgesamte Durchgedachtheit traf ein Publikum in sichtlich wohlwollender Zugeneigtheit (guter Laune) an. Der Abend implizierte Leichtigkeit und Fluss. Es gab auch, im Vergleich zu sonst, noch mehr und länger anhaltende Video-Nahaufnahmen der Beteiligten, die von den äußerlichen als wie innerlichen "Arbeitskämpfen" zeugten; ihre derart freigelegten Faceporträts erreichten eine mannigfache Dimension, die der Verselbständigung einer Ahnengalerie [Straße der Besten, nannten DDR-Ostler wie ich das einst] entsprach:

Jeanne Balibar, Jean-Damien Barbin, Frank Büttner, Jean Chaize, Brigitte Cuvelier, Georg Friedrich, Patrick Güldenberg, Sir Henry, Hanns Hilsdorf, Rocco Mylord, Lars Rudolph, Alexander Scheer und Daniel Zillmann!

Ergiebige Passagen des durchspielten Themenabends wurden, was die O-Zitate von Racine (Phaidra) oder Molière betraf, die insbesondere von Balibar & Barbin mit barocker Theatralik vorgetragen wurden, auf Französisch abgehalten; Übertitelungen dolmetschten das Alles.

Stück im Stück im Stück, im altbewährt habenden Matrjoschkaprinzip, wurde erkenntlich. Und selbst wenn man keine der verstückten "Vorlagen" zuvor je kannte, fand man sich doch irgendwie zurecht. Die allzu kalkulierten Parallelen Sonnenkönig-Stalin-Renner und Molière-Bulgakow-Castorf (Großes als wie Kleines in ironisch distanzierten Unverhältnismäßigkeiten) hatten mehr- sprich eindeutigen Hieb, aber auch über sie hinaus konnte, wer wollte, weitersuchen, wer im wahren Leben, gestern als wie heute, so gemeint gewesen sein sollte; dieses allein machte schon einen Heidenspaß.

Raumkünstler Aleksandar Denić hatte einen multifunktionalen Straßentheater-Wagen aus der Zeit des Hochbarocks kreiert und bauen lassen. Dieses sensationelle Ungetüm wurde von mehreren kräftigen Männern, jeweils nach regielichem Belieben, rein und raus gezogen. Sein enormer Anblick war gewiss der Haupthingucker dieses Aufsehen erregenden optischen (!) und biennalereifen Großereignisses. Zudem gab es - außer der ebenfalls bewegten Videoleinwand - noch ein Zelt und einen Pavillon, in dessen Innerem die altbewährten Filmaufnahmen abgewickelt wurden.

Spektakulär - wie immer - auch das Haute Couture, das Adriana Braga für das Schauspielpersonal entwarf; das ging so weit, dass eigens für den Schlussvorhang noch eine schicke Extra-Kollektion aller Beteiligten bestaunbar war.

Castorf geht wieder - unbewusst oder bewusst - mehr auf die Leute zu. Er weiß, dass das Theater (und natürlich auch dann SEIN Theater) für (s)ein Publikum gemacht sein muss. Im aktuellen Fall gelingt ihm das, und ohne dass er auch nur einen Deut seines gesamtkunstwerklichen Totalanspruchs in Frage gestellt haben würde, auf das wundersam Vorzüglichste.

Ein Hochakt.

[Erstveröffentlicht auf KULTURA-EXTRA am 29.05.2016.]

DIE KABALE DER SCHEINHEIIGEN. DAS LEBEN DES HERRN DE MOLIÈRE (Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, 28.05.2016)
Eine Inszenierung nach Michail Bulgakow mit Texten von Pierre Corneille, Rainer Werner Fassbinder, Moliére und Jean Racine

Regie: Frank Castorf
Bühne: Aleksandar Denić
Kostüme: Adriana Braga
Kostüm-Mitarbeit: Sasha Thomsen
Licht: Lothar Baumgarte
Musik: Sir Henry
Kamera: Andreas Deinert, Mathias Klütz und Kathrin Krottenthaler
Videoschnitt: Jens Crull
Ton: Klaus Dobbrick und Tobias Gringel
Tonangel: Dario Brinkmann und William Minke
Dramaturgie: Sebastian Kaiser
Mit: Sophie Rois (Michail Bulgakow), Alexander Scheer (Jean-Baptiste Poquelin de Molière, berühmter Dramatiker und Schauspieler), Georg Friedrich (Ludwig der Große, König von Frankreich), Jeanne Balibar (Madeleine Béjart), Hanna Hilsdorf (Armande Béjart de Molière), Lars Rudolph (Marquis de Charron, Erzbischof der Stadt Paris), Jean-Damien Barbin (Marquis d’Orsini, Duellant, Spitzname „Potzblitz“ oder „Einäugiger“), Patrick Güldenberg (Jean-Jacques Bouton, Kerzenlöscher und Diener Molières), Rocco Mylord (Zacharie Moyron jung), Daniel Zillmann (Zacharie Moyron alt, berühmter Schauspieler im Liebhaberfach), Frank Büttner (Narr und Der Gerechte Schuster), Brigitte Cuvelier (Die Unbekannte), Jean Chaize (Der Unbekannte) und Sir Henry (Vater Bartholomäus)
Premiere war am 28. Mai 2016
Weitere Termine: 4., 10., 11., 25. 6. 2016

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Geschrieben von

Andre Sokolowski

Andre Sokolowski ist Inhaber, Herausgeber und verantw. Redakteur von "KULTURA-EXTRA, das online-magazin"

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