FUGIT in Köln-Ehrenfeld

Performance Das katalanische Straßentheater Kamchàtka und das zamus-ensemble Köln verübten Flucht und Flüchte

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Heute [am Donnerstag, den 3. März 2016] riet der EU-Ratspräsident Donald Tusk den sogenannten Wirtschaftsflüchtlingen: "Kommen Sie nicht nach Europa!" Als ob der gegenwärtige Flüchtlingsstrom zu überwiegendem Teil aus sogenannten Wirtschaftsflüchtlingen bestünde - und als wäre nicht in erster Linie der seit über fünf Jahren tobende Syrienkrieg die Hauptursache dessen, dass die Menschen halt in Strömen aus den Kriegsgebieten nach Europa fliehen würden.

Die Balkan-Route ist dicht. Die Europäische Union hat sich gespalten, nicht nur "klassisch" (Ost/West), nein - auch zwischen Österreich und Deutschland, um ein Beispiel nur zu nennen, geht inzwischen ein unkittbar tiefer Riss. Die Flüchtlinge - so ist es wohl - bringen den ganzen Laden völlig durcheinander. Und es werden immer, immer mehr...

Was tun? wohin am Schluss??

Kamchàtka wäre da vielleicht der allerletzte Ausweg, oder???

*

In Köln-Ehrenfeld (wo ZAMUS, das Zentrum für Alte Musik ansässig ist) kriegte man jetzt einen gewissen Eindruck, wie sich Flucht so anfühlt:

FUGIT lautete der Titel des Projekts - kreiert hat es die katalanische Straßentheater-Truppe Kamchàtka; hiermit tourt sie durch die ganze Welt. Ja und das ZAMUS, dessen künstlerischer Leiter Thomas Höft sie unlängst bei 'nem Kopenhagen-Gastspiel zufällig entdeckte und sofort dann "aufgabelte", wollte justament mit ihr diese Geschichte hier und jetzt [Köln-Ehrenfeld am 2., 3., 4. März 2016] nach-vollziehen.

"Kamchàtka ist ein Ort am Ende der Welt, eine Halbinsel in Sibirien."sagt Adrian Schvarzstein, Gründer des Theaters. "Wir haben einen Namen gesucht, der Ferne symbolisiert, von dem man nicht wirklich etwas weiß, der aber gleichzeitig auch vertraut klingt, die Gefühle heraufbeschwört von unbekannter Weite, von Exotik - und von einer gewissen Bedrohlichkeit."

* *

Die blinde Sängerin Gerlinde Sämann und der Cembalist Michael Hell - sie kommen in den ZAMUS-Proberaum in Klüften aus den Fünfzigern bzw. Sechzigern - beginnen mit Musik von Johann Jacob Froberger (1616-1667), Barbara Strozzi (1619-1677)...

Plötzlich "stürmen" zwei wahrscheinlich auf der Flucht Seiende (Prisca Villa, Gary Shocat) das gediegene Konzert und fordern beide Musiker sowie sämtliche Anwesende auf, mit ihnen den besagten Raum durch eine Hintertür geordnet-fliehend zu verlassen. Irgendwas Bedrohliches, etwas Verfolgendes sitzt Einem daraufhin im Nacken...

Eine Art Parcours durch ZAMUS' "Unterwelt" - - alle (= wir Publikum) geraten in ein weiträumiges Obdach, das durch Kerzenlicht mehr oder weniger aufscheint. Schlaf- und Verweilplätze von Musikern, auch...

Und man geht entlang und sieht und lauscht...

Gefahr von irgendher! Musik bricht ab...

Diese vermeintlich auf der Flucht Seienden - 5 Männer, 1 Frau, aus einem (mediterranen?) Land - planen die Weiterflucht, und zwar mit uns...

Wir werden getrennt, wir werden aufgeteilt in drei kleinere Gruppen; mit je 2 Anführenden...

Personalausweise und Handys müssen (zur Sicherheit für alle) abgegeben werden; das scheint nicht auf ein-einhellige Begeisterung bei allen "Mitwirkenden" zu stoßen, und es gibt daher Verweigerer - egal...

Man flieht von Station zu Station, mal draußen (es regnet und ist kalt) - mal drinnen: in eine Schreinerei, in eine Polsterei, in eine Diskothek, in eine Kita, im Leuchtturm, im Supermarkt - - mal per Kleinbus (= Fluchtwagen) oder zu Fuß...

Es gibt ein aufwärmendes Innehalten: In der Runde kommen wir uns näher; eine(r) der je 2 (mediterranen?) Fliehenden zieht alte Fotos aus seinem Privatleben hervor und lässt sie dann zum Anschauen reihum gehen; dann gibt es etwas Brot und/oder Schnaps...

Der sternenmarschige Zielpunkt der drei Fluchtgruppen ist oberhalb der U-Bahn-Station Venloer Straße = gleichsam ist er Wiederbegegnungsort von ALLEN - - und ein Freudenfest enttaumelt - - - Umarmungen, Küsse, Tänze; und das abgöttisch spielende zamus-ensemble (!!!); ALLE liegen ihm zu Füßen...

Auf der anderen Seite des U-Bahnhofes, oben angelangt, werden uns (= Publikum) zum Abschied die Augen verbunden - darauf geht's im Gänsemarsch irgendwohin; wir können es nicht sehen, und wir halten uns mit unsern Händen an den Schultern unseres Vorangehenden hilfesuchend fest...

Es geht Treppen hinauf; man sieht nichts - doch man hört von ferne himmlische Musik - - man wird, durch unsichtbare Hände, irgendhin platziert; hier ist es trocken, und hier ist es warm...

Gerlinde Sämann singt die Schlummerarie aus der Bach-Kantate Ich habe genug... Die Musiker begleiten sie... Schlussendlich leise Orgelklänge, und wahrscheinlich auch von Bach...

Dann hörst du plötzlich nichts mehr; allenthalben Schritte...

Du befreist dich selber von der schwarzen Augenbinde - blickst betäubt um dich, langsam nach allen Seiten und nach oben - - Vestibül mit Holztreppen; im Helios-Haus...

Kein Fliehender, kein Flüchtling weit und breit; nur du und du und du...

Aber: Wo sind sie ALLE hin?????

* * *

Atemberaubend.

Wahr & Wunder.

[Erstveröffentlicht von Andre Sokolowski am 3. März 2016 auf KULTURA-EXTRA.]

FUGIT (Zentrum für Alte Musik Köln, 02.03.2016)
Interaktives Musiktheater

Musik von Barbara Strozzi, Johann Sebastian Bach, John Playford u.a.
Gerlinde Sämann, Sopran
Theatergruppe Kamchàtka
Künstlerische Leitung: Adrian Schvarzstein
zamus-ensemble
Musikalische Leitung: Michael Hell
Premiere war am 2. März 2016
Weiterer Termin: 4. 3. 2016

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Andre Sokolowski

Andre Sokolowski ist Inhaber, Herausgeber und verantw. Redakteur von "KULTURA-EXTRA, das online-magazin"

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