IEMŪRĒTIE (THE IMMURED) von Ēriks Ešenvalds

Neue Musik Zu Besuch in der Lettischen Nationaloper Riga

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Der Neubau der Lettischen Nationalbibliothek (Eröffnung: 2014) ist ohne jede Frage einer der hinguckerischsten Wahrzeichen von Riga - von der historischen Altstadt aus sieht man das wie ein Berg aus Glas nach oben sich verjüngende 13stöckige Gebäude am anderen Ufer der Daugava und staunt nicht schlecht; der lettischstämmige US-Amerikaner Gunnar Birkerts entwarf es...

Um sie (die Bibliothek) und ihn (den [in diesem Fall anonymisierten] Architekten) geht es auch in der mehr als 3stündigen national-empathischen Oper Iemūrētie (= der/die/das "Eingemauerte") von Ēriks Ešenvalds. Sie fußt auf einer real-spirituellen Geschichte, die auf zwei landestypische Mythen zurückzugehen scheint:

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Der lettische Nationaldichter Rainis (1865-1929) lässt in seinem Gedicht Das goldene Ross eine Prinzessin, die in ewigem Schlaf auf der Spitze eines gläsernen Berges verharrt, erlösen; und dann gibt es noch eine im lettischen Kollektivbewusstsein verankerte Sage unter dem Titel Gaismas pils (= Lichtschloss), wonach die Letten erst nach einer Wiederauferstehung jenes Lichtschlosses ihre definitive Freiheit zurückerlangen würden. Alles das mag für uns außenstehende Besucher, die wir meistenfalls im Touries-Modus sind, hyperpathetisch-seltsam anmuten; für lettische Befindlichkeiten ist jedoch so eine Art von rückbesinnender Bestandsaufnahme unverzichtbar-wichtig. "Richtig" unabhängig sind sie ja erst seit der großen Wende-Ära des Zusammenbruchs oder der Auflösung des russisch dominierten Ostblocks ab dem Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre...

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Also:

Zwei Haupt- und/oder Gegenpaare spielen in der Oper eine Doppelhauptrolle - der Architekt und der Baumeister (Mihails Čuļpajevs und Jānis Apeinis) sowie die Architekten-Freundin und die Baumeister-Schwester (Inga Šļubovska-Kancēviča und Ieva Parša); wobei die erste eine Bibliothekarin und die zweite eine Dichterin ist.

Irgendwie - so meinen wir es nachvollzogen und verstanden gehabt zu haben - scheint es sich um Mythisch-Vorbestimmtes vor, während und nach dem Bau der Bibliothek (= Hauptort des zweiaktigen Handlungsstrangs) zu drehen. Der Architekt ist arbeitsmäßig völlig mit dem Großprojekt befangen, seine Freundin nimmt er durch das Überlastungspensum kaum noch wahr - sie ist es aber dann (und gleichsam-gleichzeitig), die diese in dem Mythenkreis gemeinte "eingeschlossene" Prinzessin metaphorisch darstellt. Vorwarnrufe kommen dann auch aus der Poesie-Ecke der Schwester von dem Baumeisters; sie muss sich schon seit Langem mit dem angemahnten Mythos dichterisch beschäftigt haben - - lange Rede kurzer Sinn: Die Bibliothek fordert ein Opfer, ehe sie eröffnet würde; ja und dieses Opfer konnte/kann dann eigentlich nur die vom Architekten bis dahin "Vernachlässigte", die zudem inzwischen von ihm schwanger wurde, sein...

Das Stück schwappt nun zwischen einer sich einerseits real und andrerseits surrealistisch gefallenden Aura hin und her, und es macht uns (die Rezipienten) stellenweise etwas Mühe, eine jeweilige Augenblicksstandarte zwischen Dies- und Jenseits des doch stark verquasteten Geschehens ausmachen zu können - ständig wechseln irgendwelche Perspektiven.

Musikalisch fühlen wir uns eher einer traditionell-tonalen "Sprache" ausgesetzt. Chor und Orchester sind sehr üppig aufgestellt und klingen dementsprechend voll und rund - mitunter fast zu voll, zu rund. Das sängerische Personal hat dankbar viel zu tun; der Komponist hat ihm bevorzugt Leitmotivisches für seine Rollenbücher vorgesehen. Es gibt große, manchmal sogar großartige Einzel- und Ensembleszenen, die doch spürbar gern von den Beteiligten gesungen und gespielt werden...

Die Inszenierung von Laura Groza-Ķibere lässt in ihrer psychologisch gut gemeisterten Personenführung keine Wünsche offen. Bei den vielen Umbaupausen (Bühne: Andris Freibergs) ist dann meistens ein per Synthesizer abgespultes Schlaf- und Schnarchgeräusch (wohlweißlich der zu opfernden bzw. schon vor Hunderten von Jahren aufgeopferten Prinzessin) saalweit wahrnehmbar. Das sichtlich Teuere der Produktion ahnt man dann auch beim Anblick zahlloser Kostüme von Kristīne Pasternaka, die den ellenlangen Abend abwechselnd zu sehen sind.

Es dirigierte Kaspars Ādamsons.

Ein ausverkauftes Haus, ein stark auf neue Klänge (und erfüllende Emphase) eingestelltes Publikum!

Wir sind im Nachhinein verblüfft.

[Erstveröffentlicht auf KULTURA-EXTRA am 20.10.2016.]

IEMŪRĒTIE (THE IMMURED) | Lettische Nationaloper, 13.10.2016
Oper in zwei Akten
Musik von Ēriks Ešenvalds
Libretto: Inese Zandere

Musikalische Leitung: Kaspars Ādamsons
Regie: Laura Groza-Ķibere
Bühne: Andris Freibergs
Kostüme: Kristīne Pasternaka
Licht: Jevgeņijs Vinogradovs
Choreografie: Liene Grava
Video: -8
Besetzung:
Architekt ... Mihails Čuļpajevs
Baumeister ... Jānis Apeinis
Dichterin (Schwester des Handwerkers) ... Ieva Parša
Bibliothekarin (Freundin des Architekten) ... Inga Šļubovska-Kancēviča
Präsident ... Rihards Mačanovskis
Ministerin ... Kristīne Gailīte
DJ & MC ... Mixmaster AG
Chor und Orchester der Lettischen Nationaloper
Uraufführung war am 19. Mai 2015
Weitere Termine: 16. 11. 2016 // 28. 1. / 9. 3. / 6. 5. 2017

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Geschrieben von

Andre Sokolowski

Andre Sokolowski ist Inhaber, Herausgeber und verantw. Redakteur von "KULTURA-EXTRA, das online-magazin"

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