Jiddische Operettenlieder mit Barrie Kosky

Konzertkritik "Farges mikh nit (Vergess mich nicht)" beschworen Alma Sadé, Helene Schneiderman und Barrie Kosky (am Klavier!) in ihrem Liederabend in der Komischen Oper Berlin

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"Die jiddische Operette ist eine fast vergessene Gattung. Ihre Autoren und Komponisten, zum größten Teil aus Osteuropa stammend, emigrierten unter dem Druck der dortigen Pogrome Anfang des 20. Jahrhunderts in die USA. Dort stellten sie dem noch in den Kinderschuhen steckenden amerikanischen Musical und der aus Europa importierten Operette ein drittes Genre gegenüber: die jiddische Operette. Ihre Lieder handeln nicht selten vom Exil, von Einsamkeit und Heimweh." (Quelle: komische-oper-berlin.de)

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"Farges mikh nit" (= Vergess mich nicht) von Abraham Ellstein und dem Texter Jacob Jacobs beispielsweise. Sängerin Helene Schneiderman gibt dieses melancholisch anrührende Lied mit glaubwürdiger Inbrunst und nicht minder augenzwinkerlicher Ausgeglichenheit zum Besten.

Barrie Kosky (am Klavier!) greift zwischendurch zum Mikrofon, beschwört den ganzen Reichtum und die großherzige Seele dieser vielschichtigen Lieder oder ordnet einige der 17 vorgetragenen Juwele jiddischen Musiktheaters insbesondere jiddischer Operette ein - und freilich sucht man nachbereitend diese "Gattung" webwide fast vergebens; denn sie gilt, spätestens nach dem Holocaust, als ausgestorben wie halt auch das Jiddische (als nicht erst von den Nazis ganz bewusst verhinderte, verbotene, vernichtete Umgangs- und Alltagssprache insbesondere der osteuropäischen Juden) regelrecht verschwand; all das, was heute über sie zu finden, zu erspüren und erinnernd aufzudecken wäre, hätte/hat dann "nur noch" eine museale Komponente, das von Kosky anlässlich der 70-Jahr-Feier der Komischen Oper Berlin reanimierte Musical Anatevka (mit viel Jiddischem im Text) birgt dieses Kategorische sentimental und gut gemeint in sich.

Der im australischen Melbourne geborene Regisseur und heutige Theaterintendant, selbst ein Enkel jüdischer Einwanderer, ließ zu seiner Familiengeschichte Folgendes verlauten: "Die Koskys stammen aus dem weißrussischen Schtetl Chashniki, südöstlich von Vitebsk. Das könnte ebenso gut Anatevka sein. Mein Großvater, seine vier Brüder und zwei Schwestern haben diesen Ort 1905 verlassen, zur selben Zeit, in der auch Anatevka spielt, und unter denselben Umständen. Sie flohen vor den Pogromen, die überall in Weißrussland stattfanden, nach Deutschland, wo sie aber nicht bleiben konnten. Von Hamburg aus reisten sie weiter nach Australien. Aber anders als im Stück blieben Teile meiner Familie im Schtetl: Mein Urgroßvater und seine Frau, er war der Hausverwalter der Synagoge von Chashniki, lebten bis zu ihrem Tode in Weißrussland. Natürlich teilen viele Millionen jüdischer Familien diese Geschichte: Die jüdische Gesellschaft innenrhalb der Gesellschaft wird über den ganzen Erdball verstreut. Dies berührt zugleich die ganz fundamentale Bedeutung der Exilgeschichte für das Judentum."

Das [s.o.] steht wohl auch für eines seiner Grundmotive, weshalb Kosky sich - und zwar schon länger - um die Hebung der bis da fasthin verschütt' geglaubten Schätze aus dem jiddischen Musiktheater derart müht. Verschmitzt-humorig und sentimental-verstiegen hören sich fast alle dargebrachten Nummern nach und nach dann an; er selbst sang vom Klavier aus "Meydele" (= Mädele), veränderte "es" allerdings, vom Text her, zu 'nem "Jingele" (= Jungelchen) und machte "es" für ihn sodurch ein bisschen passgenauer; typisch Kosky!

Vor allem in den 1930er Jahren konzentrierte sich das jiddische Theater einschließlich der jiddischen Operette besonders in New York; hier gab es an die 40 Bühnen, die die Werke der unzähligen US-Einwanderer kreierten und entwickelten und jahrelang auch spielten - aber nicht nur die; selbst Wagner (sogar Parsifal) wurde auf Jiddisch dort geboten. Was für eine unglaubliche Zeit!!

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Ziemlich am Anfang dieses wunderbaren Liederabends wollte man bereits vor Rührung und Ergriffenheit die Luft anhalten, als Alma Sadé im dreifachen Piano Joseph Rumshinsky's und Molly Picon's "A bis'l libe" (= Ein bisschen Liebe) anhob...

Und der Kosky fand sogar, in all den jiddischen Liedern ginge es letztendlich immer bloß um die im Kreis sich heißdrehende Quintessenz: "...die Welt ist fantastisch - die Welt ist furchtbar."

Gemeinsam sangen also Alma & Helene schließlich eine der bekanntesten und auch berühmtesten Weisen dieses Liederabends: "Rozhinkes mit mandl'n" (= Rosinen und Mandeln) von Abraham Goldfaden, dem als Begründer des modernen jiddischen Theaters geltenden Komponisten und Volksdichter. Kosky meinte in seiner Anmoderation, dass es überlieferte Geschichten gäbe, wonach in NS-Vernichtungslagern jüdische Mütter ihren Kindern, indem sie ihnen dieses Wiegenlied ins Ohr sangen, Ruhe und Trost, bevor sie off'nen Auges in den Tod gegangen waren, spendeten.

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Ein abschließendes Beispiel für den für die jüdische Kultur so überlebenswichtigen als wie verschmitzt-enttarnenden Humor lieferte dann noch Aaron Lebedeff's "Rumania, Rumania!", wo es unter anderem dann heißt:

"'Erlösung vom Himmel komme' - kommt und küsst die Köchin Chaje,
die in alten Schuhen schafft und Kugel für Schabbat macht.
Ei! Tai tridl di dam! Ei!
Ei, es ist ein Vergnügen, besser kann es nicht sein,
ei, ein Vergnügen ist nur rumänischer Wein.
Ei, ei!"

Mit dieser witzwuchtigen Zugabe beschlossen die drei Stars ihr wunderbares Lied-Programm; und es ist mehr als wünschenswert, dass Kosky sich in naher (oder unsertwegen ferner, aber bitte dann nicht allzu ferner) Zukunft müht, ein Stück jiddischer Operette, und zwar ganz und also vollständig, in "seinem" Hause aufleben zu lassen. Und wer sollte das wohl hier an Ort und Stelle stemmend meistern, wenn nicht er? Bitte, das tu'n Sie doch für uns!

[Erstveröffentlicht auf KULTURA-EXTRA am 06.05.2018.]

"FARGES MIKH NIT - VERGISS MICH NICHT" (Komische Oper Berlin, 05.05.2018)
Jiddische Operettenlieder

1. Julius Jaffe (Lebensdaten unbek.): Ikh bin a mame (instr.)
2. Abraham Ellstein (1907–1963) / Molly Picon (1898–1992): Maz’l
3. Joseph Rumshinsky (1881–1956) / Picon: A bis’l libe
4. Sholom Secunda (1894–1974) / Itzkhok Perlov (191 1–1980): Shver tzu zayn a yid
5. Joseph Rumshinsky / Isidore Lillian (1882–1960): Du bist dos likht fun mayne oyg’n
6. Ellstein / Itzik Manger (1911–1969): Yid’l mit’n fid’l
7. Alexander Olshanetsky (1893–1946) / Bella Meisel (1902–1991): Glik
8. Ellstein / Picon: Ikh zing
9. Ellstein / Picon: Oyg’n
10. David Meyerowitz (1867–1943): Vos geven iz geven un nito
11. Ellstein / Jacob Jacobs (1890–1977): Farges mikh nit
12. Ellstein: Tif vi di nakht
13. Ellstein: Oy mame, bin ikh farlibt
14. Ellstein / Jacobs: Meydele
15. Oscar Strock (1892–1975) / S. Korn-Teuer (um 1890–1941): Vi ahin zol ikh geyn?
16. Abraham Goldfaden (1840–1908): Rozhinkes mit mandl’n
17. Aaron Lebedeff (1875–1960): Rumania, Rumania!
Alma Sadé, Sopran
Helene Schneiderman, Mezzosopran
Barrie Kosky, Klavier

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Andre Sokolowski

Andre Sokolowski ist Inhaber, Herausgeber und verantw. Redakteur von "KULTURA-EXTRA, das online-magazin"

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