"Schicksalslied" und "Lobgesang" unter Sir John Eliot Gardiner

Konzertkritik Der Monteverdi Choir und die Berliner Philhaermoniker mit Werken von Brahms und Mendelssohn

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Sir John Eliot Gardiner (78) war wieder da!

Das letzte Mal, als er mit den Berliner Philharmonikern was machte (nämlich Strawinskys Oedipus Rex) ist mittlerweile schon sechs Jahre her; zuletzt dirigierte er "seinen" Monteverdi Choir und das Orchestre Révolutionnaire et Romantique 2019, als es Berlioz'Benvenuto Cellini halbszenisch beim MUSIKFEST BERLIN zu erleben gab, und alle diese Gardiner-Konzerte waren/ sind natürlich unvergesslich. Und wer würde sich, in dem Zusammenhang, auch nicht an seinen dreiteiligen Monteverdi-Zyklus rückbesinnen wollen.

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Gestern nun Brahms und Mendelssohn, das Schicksalslied sowie den Lobgesang, zwei chorsinfonische Stücke, unterschiedlich groß, das erste mit einer Spieldauer von 15 Minuten, das zweite (also Mendelssohns 2. Sinfonie) weit über eine Stunde lang; und Gardiner brachte hierfür auch gleich mal "seinen" Chor aus UK mit...

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In diesen anhaltenden finstren Zeiten hört der Hörer wohl etwas genauer hin und ist geneigt zu (über-)prüfen, was er aktuell in den Konzerthäusern vernimmt. Das Gardiner-Konzert lief zwar so ab, wie es weit vor dem Ukrainekrieg geplant wurde - doch wie der Zufall es halt wollte, konnte aus den jeweiligen Texten der vollzogenen zwei Stücke ganz genau dann das erkannt oder (zum Seelestreicheln) 'rausgestiepitzt werden, was schon immer - mindestens seit es die Aufzeichnungen in der Bibel gibt - das Auf und Ab des Menschendaseins und -vergehens ausmacht oder sogar prägt; zum Beispiel das hier:

"Es schwinden, es fallen
die leidenden Menschen
blindlings vor einer
Stunde zur andern,
wie Wasser von Klippe
zu Klippe geworfen,
jahrlang ins Ungewisse hinab."

Der gute alte Hölderlin verfasste das einst in Hyperions Schicksalslied, ja und der Brahms vertonte es dann ein paar Jahre und Jahrzehnte später. Das [s.o.] war dann übrigens die Stelle, wo das mildherzige Genien- und Gutgötterhafte der zwei Strophen vorher (jedenfalls bei Brahms) in einen deutlich dominanteren, ja aggressiveren Ton umschlug und wo dann die Damen und Herren insbesondere des Monteverdi Choirs zu explodieren drohten und der Saal so derart bebte, dass man plötzlich zu wissen glaubte, weshalb ausgerechnet diese Stelle momentan so unglaublich bewegt.

Nicht unähnlich verhielt es sich in der weit über einstündigen Sinfonie von Mendelssohn, die Vieles seines Elias oder Paulus irgendwie vorwegnahm; ja und irgendwie noch etwas hilflos und bedeutungsschwach, zumal die permanente Abhandlung von Herzitiertem aus der Heiligen Schrift das Werk nicht groß dann "tiefer" machte, aber immerhin - spätestens ab "Die Nacht ist vergangen!" (erst von Sopranistin Lucy Crowe aus der Höhe vorgegeben und hiernach vom Chor hochemotionalerweise aufgegriffen) ließ uns heutigende Nachleser zum wiederholten Mal an diesem Abend spüren, dass das Alles, also Krieg und Frieden, höchstwahrscheinlich immer schon so war; welch trostlose und grauenhafte Grunderkenntnis. / Gardiners Interpretation des Lobgesangs hatte was durchgängig zu Lautes oder Unschlankes, viellleicht sogar etwas zu PROMS-Artiges; ja und ähnlich fühlt sich's an, wenn man in London in der Albert Hall das eine oder andere Großchorkonzert erlebt.

Alles in allem freilich:

Einzigartiges und sehr bewegendes Mitfühlen und Verweilen.

[Erstveröffentlicht auf KULTURA-EXTRA am 18.03.2022.]

BERLINER PHILHARMONIKER (Philharmonie Berlin, 17.03.2022)
Johannes Brahms: Schicksalslied op. 54
Felix Mendelssohn Bartholdy: Symphonie Nr. 2 B-Dur op. 52, Lobgesang
Lucy Crowe, Sopran
Ann Hallenberg, Mezzosopran
Werner Güra, Tenor
Monteverdi Choir
Berliner Philharmoniker
Dirigent: Sir John Eliot Gardiner

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Geschrieben von

Andre Sokolowski

Andre Sokolowski ist Inhaber, Herausgeber und verantw. Redakteur von "KULTURA-EXTRA, das online-magazin"

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