LA TRAVIATA an der Komischen Oper Berlin

Premierenkritik Regisseurin Nicola Raab überbewertet Smartphones, um durch sie "ihren" Giuseppe Verdi misslingen zu lassen

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Verdis La traviata (uraufgeführt am Teatro La Fenice, 1853) gehört zu jenen Opern, wo man eigentlich nichts falsch machen kann; sie hat ein dramaturgisch perfekt funktionierendes Stück, und ihre Musik ist/bleibt wohl über jedweden Verdacht erhaben gefühlsduslig oder gar sentimental zu sein - vorausgesetzt natürlich, dass sie dementsprechend inszeniert und musiziert würde.

Markant und merkwürdig zugleich, was ihre mannigfaltigen Gereichungen auf den Theaterbrettern so betrifft, scheint immer wieder, dass besonders konventionelle (heißt nicht unbedingt dann kitschige) Regien ziemlich "ankommenderweise" durchgehen, und ich entsinne mich an eine alte Produktion aus Hamburg (August Everding?), welche ich tränenüberströmt genoss, weil sie sich nicht dem Trick der wahren Rührung resp. des zu Rührenden verschloss, sondern ihm sozusagen freien Lauf ermöglichte. Und von den mittlerweile wieder drei Berliner abrufbaren traviata-Inszenierungen erfüllte und erfüllt diejenige von Altmeister Götz Friedrich nach wie vor am idealsten, was die Emotional-Erwartung Zuschauender angeht; Dieter Dorns 2015er Regie-Comeback an der Staatsopern im Schiller Theater war und ist hingegen außerordentlich vergessenswert; ja und das neueste Traviatische Produkt - in der Regie Nicola Raabs (Premiere gestern Abend an der KOB) - enttäuschte nicht viel anders, und da drücke ich mich noch sehr höflich aus, also:


"Eine moderne, emanzipierte Frauenfigur verirrt sich angesichts des drohenden Todes in einem traumatischen Kosmos. Im inneren Erleben ringt Violetta mit ihrem Leben als professionelle Geliebte, mit Sehnsuchtsfiguren und Dämonen ihrer Vergangenheit, gegen Schicksalsgewalt, gegen den Verlust der Kontrolle über ihr Leben und um Autonomie – angesichts der Liebe und der Einsamkeit des Todes." (Quelle: komische-oper-berlin.de)

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Vor und zwischen den vier Akten werde ich mit Synthesizerklängen, die versprengtes La traviata-Feeling transportieren sollen, zugerieselt.

Die zwei großen Ball-Szenen sind "aktuell" in einer von Madeleine Boyd konzipierten leeren Fabrikhalle zu Beginn des industriellen Zeitalters verortet - ihre Heutigung wird dahingehend sicht- und auch erlebbar, dass man hier ein Großbordell, einen von zahlungskräftigen Kunden begehbaren Mega-Sexroom installierte; eine Reihe aufgestellter Flachbildschirme mit sich hinter ihnen (und vor Live-Cames) räkelnden Huren versinnbildlicht die neue Mode, der von Kunden beiderlei Geschlechts (mit Smartphones, die sie mit den Flachbildschirm-und-Live-Cames-Huren "echt" verbindet, ausgestattet) freizügig entsprochen wird; ihre Klamotten (Annemarie Woods) sehen nach Biedermeier aus, aber es könnten auch Verkleidungen für eine Sexparty 2019 sein.

Zwischen dem statisch oder pantomimisch mit sich selbst befassten Chor und den zwischen ihm hilf-/ziellos herum agierenden Protagonisten gibt es keinerlei oder so gut wie keine, jedenfalls nicht nachvollziehbar-spürbare Kontaktereien, anders ausgedrückt: Menschlicher Faktor, ob "im Einzelnen" oder ob "in der Gruppe" - Fehlanzeige.

Sodurch wird die Vorführung der Kurtisane in der Öffentlichkeit zur Behauptung, findet letzten Endes in realo überhaupt nicht statt.

Aber wozu dann La traviata inszenieren?

*

Und der Cast??

Natalya Pavlova (als junge und de facto unverbrauchte Violetta), Ivan Magrì (als höchst ungestüm aus sich heraussingender Heldentenor-Alfred) und besonders Günter Papendell (als sündhaft schöner und fast allzu jugendlicher Vater/Schwiegervater Giorgio Germont) empfehlen sich aufs Nachdrückliche.

Die superben Chorsolisten der Komischen Oper Berlin (Choreinstudierung: David Cavelius) klingen lupenrein, fast schon geradlinig.

Ainārs Rubiķis deutet einen ziemlich kantigen und "harten" Verdi. Seine vielen Kunstpausen, die er den Ausführenden so verordnet, hätte er sich allerdings verkneifen können.

* *

Zum Vergleich:

De Neuenfels'sche traviata vor elf Jahren ist von ungleich größerer Bedeutung, was die anhaltende KOB-Historie dieses nachhaltigen Werks betrifft.

[Erstveröffentlicht auf KULTURA-EXTRA am 02.12.2019.]

LA TRAVIATA (Komische Oper Berlin, 01.12.2019)
Musikalische Leitung: Ainārs Rubiķis
Inszenierung: Nicola Raab
Bühnenbild: Madeleine Boyd
Kostüme: Annemarie Woods
Dramaturgie: Simon Berger
Chöre: David Cavelius
Licht: Linus Fellbom
Choreografie: Oren Lazovski
Besetzung:
Violetta Valéry ... Natalya Pavlova
Flora Bervoix ... Maria Fiselier
Annina ... Marta Mika
Alfredo Germont ... Ivan Magrì
Giorgio Germont ... Günter Papendell
Gastone ... Ivan Turšić
Baron Douphol ... Dániel Foki
Marchese d'Obigny ... Carsten Sabrowski
Dottore Grenvil ... Philipp Meierhöfer
Ein Kommissionär ... Changdai Park
Giuseppe ... Alexander Fedorov
Chorsolisten und Orchester der Komischen Oper Berlin
Premiere war am 1. Dezember 2019.
Weitere Termine: 07., 13., 17., 20., 23., 25., 28.12.2019 // 10., 17.01. / 01., 02., 22.02. / 01., 04.07.2020

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Geschrieben von

Andre Sokolowski

Andre Sokolowski ist Inhaber, Herausgeber und verantw. Redakteur von "KULTURA-EXTRA, das online-magazin"

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