Platonov's TSCHEWENGUR durch Frank Castorf

Premierenkritik Am Schauspiel Stuttgart wurde erstmals "Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz" nachempfunden

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Tschewengur (Regie: Frank Castorf) am Schauspiel Stuttgart - Foto (C) Thomas Aurin

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Frank Castorf: "Ich hab das Gefühl, dass sich alle in diesem marginalisierten Bereich des Theaters aus Angst immer mehr vernetzen und dass die Wut eines Einzelnen, der sich ins Halbdunkle einer Höhle zurückgezogen hat, eher fehlt. Man hat aber die Verpflichtung, diese Wut auszudrücken. Momentan ist mir daran gelegen, dass nicht nur der big burger, sondern der big big burger entsteht – dass das Chaos, die Vielheit mehr und nicht weniger wird. Das Theater war mal eine kultische, anarchische Veranstaltung, ein großer Aufbruch. Es ist schade, dass wir jetzt immer den Konsens und nicht den Dissens suchen. Und also nichts Neues, Drittes entsteht. Oder wenigstens eine neue Frage." (Quelle: schauspiel-stuttgart.de)

Das [s.o.] liest sich nicht sehr optimistisch. Es verweist doch sehr direkt und ziemlich unverblümt auf einen momentanen Geistes- und Gemütszustand des ostdeutschen Theater-Dino's, dem man quasi per Dekret - und sozusagen unter'm Arsch weg - "seine" Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz weggenommen hat; mit dieser städtekämmerischen Schandgroßtat werden die zwei derzeitigen Kulturverantwortlichen dermaleinst in das Geschichtsbuch von Berlin, womöglich nur als kleine Fußnote (doch immerhin), 'nen Doppeleintrag finden - - wir ereiferten uns schon gebührlich-oft über den stattgefunden habenden Skandal. Es hier und aktuell noch einmal, kohlensäurig-aufstoßend, benannt zu haben, sollte uns mithin 'ne Herzensangelegenheit gewesen sein.

Castorf, der seit Geraumem sein regieliches Betätigungsfeld hochverstärkt auch außerhalb des Ostberliner Stammhauses, wo er noch bis zur nächsten Spielzeit Intendant bleibt, austariert (Der Ring des Nibelungen, Baal, Die Krönung Richard III., Pastor Ephraim Magnus usf.), hat jetzt dem allerliebst-beschaulichen und gleichsam munter-kampferprobten Stuttgart ("Stuttgart 21") seine für ihn typische Ästhetik gastspielweise angedeihen lassen. Armin Petras wird das so gewollt haben. Selbst unter der Voraussicht, dass sich wohl dann auch im Schauspiel Stuttgart während der 5 Stunden Spieldauer die Reihen etwas lichteten...

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Tschewengur. Die Wanderung mit offenem Herzen hieß der wieder einmal überlange große Themenabend aus der Inszenierungsfeder von F.C.

"Platonovs Roman Tschewengur zeigt in grausig-komischem Ton die Probleme einer unausgereiften kommunistischen Gesellschaft auf.
Tschewengur erzählt die Geschichte eines Provinzdorfes in der südrussischen Steppe. Hunger und Not haben Tschewengur fest im Griff. Die Idee der Revolution fällt in dieser verödeten Umgebung schnell auf fruchtbaren Boden. Doch leider ist die Begeisterung der Tschewengurer für den Kommunismus mit einem absoluten Unverständnis für dessen komplexe Implikationen gepaart. Abgeschnitten von der Außenwelt entwickeln sie ihr eigenes Revolutionsmodell."(Quelle: henschel-schauspiel.de)

Wir orderten ein kostenfreies Textbuch beim Verlag, um durch die vorbereitende Lektüre fit zu sein - um also das, was mittels Castorf, diesem prinzipiellen Textanreicherer, zu hören wäre, zum O-Text (Deutsch von Renate Reschke) in Verhältnisse zu setzen. Doch die henschel SCHAUSPIEL-Assistentin zickte rum, ja und so kriegten wir halt keins.

Und so vertrauen wir wie eh und je dem Meister, wenn er einleitend - wieder auf schauspiel-stuttgart.de - zu seiner Inszenierung schreibt:

"Platonov liefert in seinem Meisterwerk eines der erschütterndsten literarischen Bilder über Revolution und Bürgerkrieg in einer apokalyptisch ausgerichteten Zeit russischer und europäischer Geschichte. Grotesk, satirisch, realistisch und phantastisch schildert er die unerträglichen Widersprüche der revolutionären Wirklichkeit: Welche Opfer kostet der Versuch, Utopie ins Leben zu zwingen. Seine Hauptfiguren, Sascha Dvanov und Sergeij Kopjonkin, sind sowjetische Versionen von Don Quijote und Sancho Pansa. Beide sind unterwegs im nachrevolutionären Russland – auf der Suche nach dem Kommunismus und dem Grab von Rosa Luxemburg, auf der Suche nach dem Glück und der Liebe, einem besseren Leben. In Tschewengur, einer kleinen Stadt in der großen, weiten und ansonsten leeren russischen Steppe, soll, so haben sie gehört, der Kommunismus bereits ausgebrochen sein. Also machen sie sich dorthin auf den Weg. Begleitet von ihrer Rosinante 'Proletarische Kraft', beginnen sie ihre 'Wanderung mit offenem Herzen'."

Damit ist die Sache klar.


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Tschewengur (Regie: Frank Castorf) am Schauspiel Stuttgart - Foto (C) Thomas Aurin

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Wir wollen's abkürzen:

Der Castorf-Plot [s. Zitat oben] war in Teilen wiedererkennbar - freilich auch durch den phänomenal gelungenen Drehbühnenaufbau Aleksandar Denićs. Letzterer hatte beispielsweise die Don Quijote'sche Windmühle als Rücktrieb und/oder Propeller für den Strelnikov'schen Panzerzug (aus Doktor Schiwago) benutzt. Rechts und links von diesem imposanten Ungetüm die für die obgligatorischen Videos in Echtzeit erforderlichen "Rückzugsgebiete" aus Baracken und Verschlägen; hierin ging's zumeist sehr eng und laut zu, was uns dann die schönen Groß- und Nahaufnahmen (durch die Kamera- und Tonleute Tobias Dusche, Daniel Keller, Philip Roscher, Philipp Reineboth) vermittelten.

"Dreiachtelbolzen", "Gegenmuttern", das Heiner Müller'sche Ich bin der Engel der Verzweiflung, mannigfaltiges Geflügelgackern oder Hahnkikeriki sowie ein gleich zweimal (vor/nach der Pause) abgetanztes Kurzballett nach Schostakowitsch oder nach Prokofjew oder wem auch immer taten Aug' und Ohr aufs Argste wach halten, trotz dass - wie meistens bei den vielen aufgesagten Endlosschleifen - der gelegentliche Gähnkrampf lauerte.

Das sich verausgabende Personal aus höchstwahrscheinlich hundertpro Stuttgarter Hauskräften [Namen s.u.] fand doch spürbar schnell und gern zu Castorfs Spielstil.

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Es ist nicht die allerbeste Maestro-Arbeit, die ich bis dahin erlebte; also ich erlebte schon viel bessere.

Die insgesamten Überforderungen - insbesondere durch die im Sommer dieses Jahres bei den Wiener Festwochen erstaufgeführten und Anfang November an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz schließlich zu vollendenden Brüder Karamasow - ließen dieses Mal eine gewisse "Halbherzigkeit" aller Kraftanstrengungen vermuten; man wurde den Eindruck gar nicht los, als ob es sich im Falle Tschewengur um eine Art von Kommentar (zum jahrelangen Dostojewski-Projekt an sich) gehandelt haben würde; was es sicherlich de facto war.

Im Foyer des Schauspielhauses konnte man, per Videobildschirm, ein weit über halbstündiges Selbstgespräch von Castorf mitverfolgen. Ein szenischer Akt an sich! Er referierte - frei und klar und ohne Manuskripte zu bemühen - über den Platonov, seine Zeit, sein Leben und seinen Roman. Er steht total im Stoff. Er kennt den Roman in- und auswendig. Er muss, so wie es scheint, sämtliche KGB-Akten des Autors eingesehen haben. Dieser Sachverstand von ihm ist schier unglaublich, aber wahr.

Die fast schon kindlich-spielerische Übertragung all des von ihm infiltrierten Materials hatte zwangsläufig mit zur Folge, dass am Ende nur Er selbst (und selbstverständlich alle "seine Leute", die das Alles mit ihm teilten, weil er sie an all dem pflegerisch ja chefärztlich beteiligte) Masse als wie Extrakt des Materials verstand. Uns "Rest" warf er es einfach so dann vor die Füße, und wir "Restlichen" sollten dann hör'n und sehen, was wir hör'n und sahen:

Nix verstehen, du - nje panimaju.

Und mitunter funktioniert ja seine Strategie - nur diesmal nicht so gut wie sonst.


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[Erstveröffentlichung von Andre Sokolowski am 23.10.2015 auf KULTURA-EXTRA]

TSCHEWENGUR (Schauspiel Stuttgart, 22.10.2015)
Regie: Frank Castorf
Bühne: Aleksandar Denić
Kostüme: Adriana Braga Peretzki
Licht: Felix Dreyer
Dramaturgie: Jan Hein und Carmen Wolfram
Produktionsleitung: Sebastian Klink
Besetzung:
Sandra Gerling, Johann Jürgens, Katharina Knap, Horst Kotterba, Matti Krause, Manja Kuhl, Andreas Leupold, Astrid Meyerfeldt, Wolfgang Michalek, Hanna Plaß, Tobias Dusche, Daniel Keller (Live-Kamera), David Wesemann (Live-Videoschnitt), Philip Roscher, Philipp Reineboth (Tonangler) und Carsten Bänfer (Sounddesign)
Deutschsprachige Erstaufführung war am 22. Oktober 2015
Weitere Termine: 29. 10. / 7., 22. 11. / 13. 12. 2015

Weitere Infos siehe auch: http://www.schauspiel-stuttgart.de

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Andre Sokolowski

Andre Sokolowski ist Inhaber, Herausgeber und verantw. Redakteur von "KULTURA-EXTRA, das online-magazin"

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