STURM UND DRANG in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz

Premierenkritik Martin Wuttke spielte Thomas Manns alten Goethe und Gustav von Aschenbach

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Egon Günther (Der Dritte, 1971) griff dereinst auf Lilli Palmer zurück, die er mit der Rolle der Hofrätin Kestner, jener um 44 Jahre gealterten Ur-Lotte aus GoethesWerther, in seiner DEFA-Verfilmung von Thomas Manns Lotte in Weimar besetzte. Die Palmer, kurz nachdem sie von den bevorstehenden Dreharbeiten Kenntnis nahm, wollte dann ausgerechnet diese Rolle unbedingt für sich ergattern, was sie ja auch schaffte; ja und Walter Janka, einer der prominentesten Oppositionellen seiner Zeit, erreichte durch seine persönliche Bekanntschaft mit dem Schriftsteller, der sich für Jankas damalige Haftentlassung aus dem Ost-Knast diplomatisch und diskret einsetzte, dass die exklusiven Filmrechte nach Ost-Berlin gelangten... In der Schluss- und Schlüsselszene dieses Films sieht man die beiden prominenten Oldies in der Kutsche sitzen: Palmer zittert mit dem Kopf und flennt ins Taschentuch, und Martin Hellberg (Goethe) wirkt dann so, als wenn er kurz vor der Verabschiedung gedacht haben wollte, "endlich haut sie wieder ab, die Alte, wird aber auch Zeit".

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Ob Julien Gosselin (Houellebecqs Elementarteilchen, 2014) den Film gekannt haben mag, spielt eigentlich keine so große Rolle. Mit der Romanvorlage freilich wird er sich en detail auseinandergesetzt haben - sie ist dann auch der Grundstock seiner dreieinhalbstündigen Geschichte der Deutschen Literatur I, mit der er gestern Abend die freiwillige Versammlung eines anwesenden Bildungsbürger- und Premierenpublikums in pausenloser Abfolge malträtierte; und dass STURM UND DRANG (so lautete der Übertitel der Performance) ohrenscheinlich gut ankam, lag ausschließlich an den für ihre pausenlosen Textabsonderungen bewunderns- und bestaunenswerten Schauspielerinnen und Schauspielern: der Französin Victoria Quesnel (als Doppel-Lotte), den beiden Volksbühnen-Altstars Martin Wuttke und Hendrik Arnst (als Hofrat Goethe und Kellner Mager), dem immer wieder gern gesehenen Hyperexzentriker Benny Claessens (als Dr. Riemer), aber sicher auch an Marie Rosa Tietjen (sowohl als Werther als auch Goethes Versager-Sohn August); welche Rolle Emma Petzet spielte, hatte ich inzwischen schon vergessen. Ja und Rosa Lembeck fiel mir erst nach weit über zwei Stunden auf, als sie - Achtung! von wegen Sturm & Drang - die ellenlange Eingangspassage aus Thomas Manns Erzählung Der Tod in Venedig extemporierte, und das war dann auch der allererste Auftrittsmoment von Wuttke, welcher als gealterter Gustav von Aschenbach vor die Live-Kameras (unter Verantwortung von Richard Klemm und Gian Suhner) und ins Bühnenbild Lisetta Buccellatos trat. Das machte dahingehend einen etwaigen Sinn, dass wir als (hoffentlich) sehr stark belesene Goethe-und-Thomas-Mann-Kenner begreifen sollten, dass es selbstverständlich für den Dichter, dem der kreative Schreibsaft irgendwie abhanden kam, vonnutzen sein könnte, wenn er in seinem (außerkünstlerischen) Leben eine Art von Schnitt setzte, sich eine (künstlerische) Aus-Zeit gönnte und in puncto STURM UND DRANG, also dem, was sein Schreiben früher leicht und locker werden ließ, vermittels einer unter Umständen vielleicht sogar erotisch aufladbaren Improvisation zum künstlerischen SchaffensDRANG zurückfindet. Der Aschenbach erreichte freilich durch die Exkursion genau das Gegenteil, und seine von ihm hocherotisch aufgeladene Begegnung mit dem Knaben Tadzio tat ihm letztendlich den eignen Exitus bescheren.

Eingebetteter Medieninhalt

Etwas aufgelockerter ging es - weit vor dem großen Essen, dass dann Goethe seinem alten Lott'chen im Weimarer Haus am Frauenplan ausrichtete - in einem griechisch anmutenden Intermezzo zu, wo Wuttke (immer noch als Aschenbach?) von Claesens, Lembeck und Petzet (als antike Musen) umschwirrt wurde und höchstwahrscheinlich aus noch einem andern Text als den von mir bis dahin identifizierten Goethe-Werther, Lotte in Weimar oder Tod in Venedig zitierte. Als ein Manko (nicht nur des Besetzungszettels) muss bezeichnet sein, dass keine Quellen, woraus dann das eine oder andere Gesprochene tatsächlich stammte, angegeben sind; aber wahrscheinlich kann sich zwischenzeitlich jeder X-Beliebige schlussendlich auch von dem bedienen, was urheberrechtlich eigentlich nicht geht; angeblich wäre auch ein Text Ernst Jüngers mit dabei gewesen; ganz am Anfang waren auf der Video-Leinwand in der Mitte all die Namen jener, die im Nachhinein zitiert würden, kurz eingeblendet, und das wars auch schon.

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Apropos STURM UND DRANG: Inkontinenzanfällige sollten auf den Besuch möglichst verzichten, selbst wenn sie dem Bildungsbürgertum hinzuzurechnen wären und sich daher für Zitat-Vergleiche wohlwollend interessierten. Die Aktion an sich - selbst für so Blasendruckverhalter als wie mich - war handwerklich vollkommen, in der Absicht aber völlig sinnlos.

[Erstveröffentlicht auf KULTURA-EXTRA am 04.06.2022.]

STURM UND DRANG (Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, 03.06.2022)
Geschichte der Deutschen Literatur I

Regie: Julien Gosselin
Bühne: Lisetta Buccellato
Kostüme: Caroline Tavernier
Lichtdesign: Nicolas Joubert
Musik: Guillaume Bachelé und Maxence Vandevelde
Sound Design: Julien Feryn
Videodesign: Jérémie Bernaert und Pïerre Martin Oriol
Kamera: Richard Klemm und Gian Suhner
Videoschnitt: Verena Buttmann
Videoregie: Marija Petrovic
Dramaturgie: Eddy Daranjo und Johanna Höhmann
Mit: Hendrik Arnst, Benny Claessens, Rosa Lembeck, Emma Petzet, Victoria Quesnel, Marie Rosa Tietjen und Martin Wuttke
Premiere war am 3. Juni 2022.
Weitere Termine: 04., 12., 15., 26.06. / 02.07.2022

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Geschrieben von

Andre Sokolowski

Andre Sokolowski ist Inhaber, Herausgeber und verantw. Redakteur von "KULTURA-EXTRA, das online-magazin"

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