Tschaikowskis DIE JUNGFRAU VON ORLÉANS - in Düsseldorf

Premierenkritik Genial musiziertes Besessenheitstheater an der Deutschen Oper am Rhein

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Mit der Jungfrau von Orléans hat es folgende Bewandtnis:

"Im hundertjährigen Krieg Frankreichs gegen England befinden sich die Franzosen in bedrängter Lage: Paris ist gefallen, Orléans belagert, der legitime Thronerbe Karl VII. in Untätigkeit erstarrt. In dieser ausweglosen Situation verkündet die Bauerstochter Johanna, Gott habe sie damit beauftragt, Orléans aus der Besatzung zu befreien. Ein Keuschheitsgelübde beglaubigt Johannas göttliche Sendung vor ihren Landsleuten, deren Kampfesmut durch die Entschlossenheit der jungen Frau neu entflammt. Unter Führung der 'Jungfrau von Orléans' gelingt der entscheidende Sieg. Doch während man Johanna als keusche Kriegerin verehrt, ist sie längst keine mehr: Sie hat ihr Herz an den feindlichen Kämpfer Lionel verloren.
Unterdessen ruft Johannas eigener Vater zum Sturz seiner Tochter auf… Wer ist Jeanne d’Arc, die legendäre Jungfrau von Orléans? Eine Gotteskriegerin, die im Auftrag himmlischer Mächte das französische Heer siegreich gegen die englischen Besatzer ins Feld führt? Oder eine junge Frau, die mit Mut die engen Begrenzungen ihres Standes und Geschlechts zu sprengen wagt und in ihrer Begegnung mit dem Krieg und der Liebe radikal den Frieden auf ihre Fahne schreibt, während die politischen Kräfte ihre Macht weiter an Sieg und Niederlage messen?" (Quelle: operamrhein.de)

Das [s.o.] ist der auf die gleichnamige Oper von Tschaikowski zugezurrte Plot.

Eingebetteter Medieninhalt

Mir selbst ist dieses Werk - also nicht die historische Vorlage bzw. Schillers oder Brechts Auseinandersetzung mit ihr - bis dato völlig unbemerkt geblieben. Spektakulär war, um vergleichend ein ganz anderes musikalisches Opus anzuführen, Christoph Schlingensiefs szenische Erstaufführung der Jeanne d'Arc - Szenen aus dem Leben der Heiligen Johanna von Walter Braunfels (DOB, 2008); die Oper Köln hiefte es acht Jahre später (Regie: Tatjana Gürbaca) nicht minder spektakulär auf ihre Bretter - doch der Braunfels ist halt eine gänzlich andere Sportsklasse als die gestern Abend im Düsseldorfer Opernhaus Premiere gefeiert habende Grand Opéra des eigentlich ja viel gespielten Russen.

Ob dann dieser künstlerische Kraftakt angesichts des anhaltenden Angriffskriegs der Russischen Föderation gegen die Republik der Ukraine Sympathie und Akzeptanz für unsere russischen Mitbürgerinnen und Mitbürger (egal, ob/ wie sie für bzw. gegen diesen barbarischen Feldzug ihrer Obrigkeiten eingestellt sind) beförderten oder verstärkten, sei dahingestellt. Das multislawisch dominierte Solistinnen- und Solistenensemble hätte sich vielleicht auch trefflicher auf den Nabucco oder den Fidelio oder irgend so'ne andre "Freiheitsoper" kaprizieren können, aber nein, es musste ausgerechnet jetzt und hier Tschaikowskis Jungfrau sein.

*

Aber okay - faktisch als Düsseldorfer Erstentdeckung dieser wahrlich selten gespielten Tschaikowski-Oper will ich "es" hier durchgeh'n lassen, und von der Musik her geht es in der Tat enorm zur Sache; man erkennt freilich sofort "seinen" Tschaikowski, dessen beide ungleich viel, viel besser librettierte Opern Eugen Onegin und Pique Dame nicht mal im Ansatz, was allein das Chorhaltige, um nicht gar zu sagen Chormassige und -lastige des Jungfrauen-Opus anbelangte, mitzuhalten in der Lage sind, unmissverständlich wieder. Und so muss hier vordergründig und zuallererst der Chor der Deutschen Oper am Rhein (Choreinstudierung: Gerhard Michalski) hochgelobt sein! Ihm liegt diese religiöse Aufgeheiztheit, die sich ins Ekstatische und Grenzenlose steigert, und man fürchtet stellenweise, dass sein sängerischer Impetus den Raum vor dem Orchestergraben okkupieren könnte und man so - als friedliebendes und bis dahin ahnungsloses Publikum - in diesen merkwürdigen Fanatismus mit hineingezerrt würde und letztlich um das eigne Leben bangen müsste. Selten war ich derart stark von einer Chor-Leistung in einem Opernhaus begeistert!

Aus der durchweg akzeptabelen Gesangssolistinnen- und -solistencrew ragte Maria Kataeva (als Titelfigur) großdimensional heraus! Ihre Stimme klingt klar und wunderbar warm, und sie bedient geradezu phänomenal eine Skala von "weit unten" bis "weit hoch". Ja, es ist gut zu wissen, dass - allein durch ihre gesangliche Totalpräsenz und schauspielernde Gesamterscheinung - endlich mit dem sinnlosen Netrebko-Nimbus aufgeräumt werden kann, will sagen: Außer jener sich immer noch als Dauer-Diva weltweit Verkaufenden existieren weitaus brillierendere "Stars", die die in ihrem Selbstverständnis nach und nach Verbleichende in naher Zukunft vergessen machen sollten; Gott sei Dank!

Die Inszenierung von Elisabeth Stöpler kann oder will recht wenig mit der religiösen Überspanntheit des (vom Script her) unlogischen und auch langweiligen Stücks anfangen. Daher bricht sie diesen Unfug auch gelegentlich durch distanzierende Verschrägungen bis hin zur Fast-Satire. Dankbar muss man ihr zudem auch dafür sein, dass sie sich nicht zu irgendwelchen Aktualisierungen in puncto Krieg & Ukraine verführen ließ; das hätte wohl auch - allenfalls nicht auf der Grundlage von diesem Stück (Libretto von Tschaikowski selbst; nein, hält man es für möglich?!) - überhaupt nicht funktioniert.

Wir halten fest:

Scheißstück, tolle Musik!!

Dirigent Péter Halász heizte den Düsseldorfer Symphonikern mächtig ein, ohne maßlos über die Stränge zu schlagen.

Jubel über Jubel.

[Erstveröffentlicht auf KULTURA-EXTRA am 04.12.2022.]

DIE JUNGFRAU VON ORLÉANS (Opernhaus Düsseldorf, 03.12.2022)
Musikalische Leitung: Péter Halász
Inszenierung: Elisabeth Stöppler
Bühne: Annika Haller
Kostüme: Su Sigmund
Licht: Volker Weinhart
Chorleitung: Gerhard Michalski
Dramaturgie: Anna Melcher
Besetzung:
Jeanne d’Arc ... Maria Kataeva
Thibaut d'Arc ... Sami Luttinen
Raimond ... Aleksandr Nesterenko
Karl VII ... Sergej Khomov
Agnes Sorel ... Luiza Fatyol
Kardinal ... Alexei Botnarciuc
Dunois ... Evez Abdulla
Lionel ... Richard Šveda
Bertrand ... Beniamin Pop
Beichtvater ... Johannes Preißinger
Lauret / (Ein Krieger) ... Žilvinas Miškinis
Engel ... Mara Guseynova
Chor der Deutschen Oper am Rhein
Düsseldorfer Symphoniker
Premiere an der Deutschen Oper am Rhein: 3. Dezember 2022
Weitere Termine: 10., 14., 17., 23., 26., 29.12.2022// 04., 08.01.2023

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Andre Sokolowski

Andre Sokolowski ist Inhaber, Herausgeber und verantw. Redakteur von "KULTURA-EXTRA, das online-magazin"

Andre Sokolowski

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden