RÜCKKEHR NACH REIMS oder Nina & Willi Hoss

Premierenkritik Thomas Ostermeier ließ Sachbuch-Bestseller von Didier Eribon "verfilmen"

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Nina Hoss spielt in der Rückkehr nach Reims (inszeniert von Thomas Ostermeier) eine Schauspielerin, die aus dem gleichnamigen Sachbuch-Bestseller Didier Eribon's in einem (von der Ausstatterin Nina Wetzel konstruierten) Aufnahmestudio diverse Passagen in ein Mikrofon zu sprechen hat, welche als "Unterfütterung" für einen parallel über dem Aufnahmestudio auf einer breiten Leinwand ablaufenden Film gedacht und ausprobiert werden. Mit ihr spielen zwei Schauspieler zwei Männer, die auf ihrem jeweils vorgespielten Gebiet eine gewisse Ahnung vorzugeben haben: Hans-Jochen Wagner einen Dokumentarfilmregisseur, Renato Schuch einen Toningenieur. Das Trio eint also die spielerische Arbeit an einem künstlerischen Bild-und-Wort-Projekt.

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"Protagonist des Films ist der Autor selbst, der sich zu einer Art Erinnerungsreise aufmacht. In einer Mischung aus persönlichem Bekenntnis und soziologischer Analyse berichtet Eribon von der Wiederbegegnung mit seiner Heimatstadt und seiner Familie, die er seit seiner Karriere als Intellektueller in Paris jahrzehntelang quasi nicht mehr gesehen hat, nicht sehen wollte. Die Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit stößt ihn auch auf die blinden Flecken der gesellschaftlichen Gegenwart: die brutalen Exklusionsmechanismen ebendieses Bürgertums, dem er selbst nun angehört, sowie die Realität einer einstmals kommunistischen Arbeiterklasse, die, vergessen und ohne Repräsentation, den Rechtspopulisten des Front National in die Arme rennt. Wie konnte es dazu kommen? Was ist der Anteil der Linken daran, was sein eigener als Intellektueller, der seine Herkunft verleugnet? Und welchen Ausweg gibt es? Fragen, denen Eribon nachgeht, während er sich im Film auf die Spurensuche in Reims macht..." (Quelle: schaubuehne.de)

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Als Zuschauender und/oder als Zuhörender werde ich über zwei Stunden lang quasi gezwungen meine Seh- und Hörsinne auf das Projekt als Ganzes - also diesen von der Schauspielerin "untersproch'nen" Film - zu fokussieren; sitzt man dann (wie ich an diesem Abend) ziemlich vorn und muss den Kopf arg ziemlich weit nach hinten recken, um die Leinwand oben mit den Augen insgesamtig abzugreifen, tut der Nacken schon ein bisschen weh... Interessanter scheint daher die autopersonalisierte Blickrichtung zum etwas weiter Unterhalb sich zu gestalten, denn: Dort unten, unterhalb der Leinwand, sitzt und steht die ganze Zeit die eine Schauspielerin spielende Schauspielerin und zwischenzeitlich auch sich selbst als Schauspielerin in die von dem Ostermeier ausgedachte Rahmen-Handlung einbringende Schauspielerin Nina Hoss!

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Im letzten Drittel reißt sie dann - unter dem vorgespielten Vorwand, dass man doch den Film nicht einfach so (zu sehen war da 'ne Momentaufnahme mit paar arbeitenden Menschen, die in einer mit Computern und Robotern vollgebauten Halle letzten Endes nur noch Knopf-Betätigungen zu verrichten hatten, was im Umkehrschluss, wenn man das jetzt so sah, bedeuten sollte, dass es in der nahen Zukunft nahezu für kaum noch wen 'ne Arbeit geben würde; Schluss mit Proletariat o.s.ä.) deprimierend enden lassen dürfte, also ohne jegliche wegweisende Vision - das Ruder an sich und schaut melancholisch auf ihr Smartphone; Wagner täuscht von sich aus menschlich anmutende Neugier vor, und beide blättern sich durch Hoss' Familien-Album...

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Und es geht zum Schluss, tatsächlich, um den 1929 in Vaals geborenen und 2003 in Stuttgart verstorbenen deutschen Gewerkschafter, Kommunisten und Grünen: Willi Hoss. Ja und ein wichtiges Lebensmotto für ihn wäre der Hölderlin'sche Satz gewesen, "wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch", weswegen er sich vielleicht auch mit über 60 in den brasilianischen Regenwald absetzte, um dort für Indios zu arbeiten.

"Er rief die Initiative 'Armut und Umwelt in Amazonien e. V.' ins Leben. 1994 gründete er POEMA e. V. Stuttgart als Partner von POEMA Brasil. POEMA wurde mit dem Stuttgarter Friedenspreis 2008 ausgezeichnet." (Quelle: Wikipedia)

Genauso einen Filmschluss hätten sich halt Nina Hoss und Thomas Ostermeier, auch als Botschaft und Vision zu Eribons Rückkehr nach Reims, gespielter Maßen (und real!) selbstredend vorgestellt.

Ein starkes, suggestives Theaterexperiment.

[Erstveröffentlicht auf KULTURA-EXTRA am 26.09.2017.]

RÜCKKEHR NACH REIMS (Schaubühne am Lehniner Platz, 24.09.2017)
Regie: Thomas Ostermeier
Bühne und Kostüme: Nina Wetzel
Mitarbeit Bühne: Doreen Back
Musik: Nils Ostendorf
Sounddesign: Jochen Jezussek
Dramaturgie: Florian Borchmeyer und Maja Zade
Licht: Erich Schneider
Filmregie: Sébastien Dupouey und Thomas Ostermeier
Kamera: Marcus Lenz, Sébastien Dupouey und Marie Sanchez
Filmschnitt: Sébastien Dupouey
Originalton Film: Peter Carstens und Robert Nabholz
Archivrecherche Film: Laure Comte und BAGAGE (Sonja Heitman und Uschi Feldges)
Videotechnik Film: Jake Witlen / Sabrina Brückner
Produktionsleitung Film: Stefan Nagel und Annette Poehlmann
Mit: Nina Hoss, Bush Moukarzel, Hans-Jochen Wagner, Ali Gadema und Renato Schuch
Berliner Premiere war am 24. September 2017.
Weitere Termine: 28.-30.09. / 01., 11.-15.10. / 22., 25.-28.11.2017
Koproduktion mit dem Manchester International Festival MIF, HOME Manchester und dem Théâtre de la Ville Paris

http://www.schaubuehne.de

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Geschrieben von

Andre Sokolowski

Andre Sokolowski ist Inhaber, Herausgeber und verantw. Redakteur von "KULTURA-EXTRA, das online-magazin"

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