Schuberts WINTERREISE im Pierre Boulez Saal

Konzertkritik Christian Gerhaher ließ sich von Daniel Barenboim begleiten

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Schuberts Winterreise gilt, nicht nur im volkstümlichen Sinne, als das Nonplusultra allen Liedgesangs; allein den Lindenbaum aus ihr ("Am Brunne vor dem Tore") kennt selbstredend jedes Kind - wir hoffen mal, dass "er" auch heute noch in allgemeinbildenden Schulen ein vermittelbares Thema ist - zu meiner Zeit (das war damals im Osten Deutschlands) durfte ich "ihn" gar noch vor der Klasse singen und bekam hierauf prompt eine Eins; ich war dann allerdings auch, insgeheim, der Liebling des Musiklehrers und wurde, nicht nur daher, von so manchem Mitschüler gehasst...

Eingebetteter MedieninhaltEs ist ja nicht nur so, dass dann die Schubert'sche Musik allein das Unbedingte und v.a. Zeitlose dieses mit 24 Liedern nicht gerade schmalen Zyklus ausmacht - hätte es für sie den Dichter Wilhelm Müller (1794-1824) nicht gegeben: unvorstellbar ihre Existenz! Ja, Winterreise - dieses Werk der beiden vielzu überstürzt verstorb'nen Frühromantiker (auch Schubert hatte nicht viel mehr als 30 Lenze lebenszeitlich schaffen können) - birgt dann schon einen schier unheimlichen Trauertaumel in sich; komisch auch, dass höchstwahrscheinlich nicht nur mir, und jedesmal wenn ich es im Gesamtzusammenhang erlebe, Bildmotive Caspar David Friedrichs tagtraumartig durch die Sinne jagen. Eine Art von Friedhofsparty: Bleiche Melancholiker unter dem Vollmondlicht.

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Derart [was jenes Bleichmondmelancholische betrifft] wollte jetzt Daniel Barenboim - diesmal in der Funktion des "bloßen" Liedbegleiters - seine Schubertsichten breitwandträchtig unters Volk bringen; er hatte hierzu Christian Gerhaher, den derzeit allerbesten (nicht nur) Winterreise-Liedsänger anlässlich des Eröffnungsfestivals vom Pierre Boulez Saal zu sich eingeladen. Und es war interessant und aufschlussreich zu sehen, und natürlich auch zu hören, wer wohl hier den eigentlichen Ton angibt - normaler Weise denkt man ja, dass das, also beim Liedgesang, vielleicht dann mehr aus vornehmlich-gesanglicher Gewichtung perspektivisch klappt; in dem erlebten Falle nun die Perzeptionierung einer Parität mit leichtem Hang sprich Schlagseite zum Mann am Steinway-Flügel (der dann wieder gänzlich abgedeckelt und sodurch stark LAUT-vernehmbar war).

Das Alles klang selbstredend überhaupt nicht schlecht, noch weniger verkehrt, und auch der emotionalen Wahrnehmung sämtlicher Lieder konnte dieses grundsätzlich nicht schaden. Für diejnigen, die Gerhaher dann allerdings mit seinem langjährigen Liedbegleiter Gerold Huber - einem Traumpaar in der Welt der Kunstliedergestaltung [siehe beispiesweise ihre Schöne Müllerin UND Winterreise in Berlin 2013] - aus dem eigenen Erleben in Erinnerungen halten, tat sich jetzt das in so Manchem vielfach abstrichig zu Konstatierende als wesentlicher Unterscheidungspunkt herauskristallisieren sprich: Die Winterreise, falls sie in gepaarter Kreativität konzeptionell erarbeitet, gestaltet und gelebt würde, erfüllte sich erst dann als wahrhaftig im ursprünglichen Sinn.

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Anhaltende Begeisterung - trotz alledem.

[Erstveröffentlicht auf KULTURA-EXTRA am 11.03.2017.]

Boulez Ensemble mit Lisa Batiashvili am 9. März 2017

Daniel Barenboim mit Radu Lupu am 8. März 2017

PIERRE BOULEZ SAAL (10.03.2017)
Franz Schubert: Winterreise
Liederzyklus nach Gedichten von Wilhelm Müller D 911
Christian Gerhaher, Bariton
Daniel Barenboim, Klavier

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Geschrieben von

Andre Sokolowski

Andre Sokolowski ist Inhaber, Herausgeber und verantw. Redakteur von "KULTURA-EXTRA, das online-magazin"

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