Simon Rattle dirigierte HIPPOLYTE ET ARICIE

Premierenkritik Erster Rameau seit 275 Jahren an der Staatsoper Unter den Linden

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Matthias Schulz, der neue Intendant der Staatsoper Unter den Linden, trat dann gestern Abend kurz vor der Berlin-Premiere zu Hippolyte et Aricie vor den Vorhang, um ad 1) die leichte Indisposition der Sängerin Adriane Queiroz und ad 2) das 275-jährige Vakantsein einer Oper von Jean-Philippe Rameau (1683-1764) an dem von Friedrich dem Großen (1712-1786) institutionell initiierten Knobelsdorff-Bau zu verkünden; und das Letztere verblüffte allerdings enorm...

Aber auch ohne Kenntnis des Historischen lag es - vom aktuell Pragmatischen her - nahe, dass dem Herzenswunsch Sir Simon Rattles, der nun ausgerechnet diese Rameauoper unbedingt hier dirigieren wollte, gern entsprochen werden konnte, denn: Die Staatskapelle tourte/tourt gerad' durch China und Australien - und Rameau, als ein Barockfall unter vielen, sollte schon (nichts gegen die Berliner Staatskapelle!) mehr von handverles'nen Spezialisten, die profundeste Erfahrungen mit historischer Aufführungspraxis haben, musiziert werden; es klingt halt immer einen Deut authentischer als jeder andere "abartige" Versuch - - so tat man also justament das Freiburger Barockorchester mit Sir Simon temporär zur Hochzeit bringen!

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Was zunächst erstaunte: Der Orchestergraben war nicht etwa, wie man eigentlich vermutet haben wollte, hochgefahren also angehoben, sondern in der "tiefen" Position, von der aus Wagner, Verdi oder Strauss gespielt wird. Sodurch klang das FBO, das immerhin mit einer 50-Leute-Mannschaft angetreten war, etwas "gedämpfter" und auch "leiser" - im Vergleich bzw. in der Harmonie zu den GesangssolistInnen hörte sich das gar nicht so schlecht an; und obgleich wohl aus der sängerischen Riege "nur" Anna Prohaska, Magdalena Kožená, Reimond Van Mechelen und Gyula Orendt (!) als besonders glaubwürdig (barockaffin) in unsrer unmaßgeblichen Spezialbewertung durchgeh'n konnten.

Dass dem weit über drei Stunden andauernden Abend - was den musikalischen Aspekt betrifft - eine gewisse Zwitternis zueigen war, dürfte v.a. auch der sängerischen Einbindung des "hauseigenen" Staatsopernchors (Einstudierung: Martin Wright) geschuldet sein; da war so eine tremolierende Behäbigkeit zu spüren, die dem leicht & locker sein sollenden Klangduktus französischen Rameau-Barocks doch irgendwie zuwider lief.

"Götter und Menschen – die Begegnung der Ewigen mit den Sterblichen ist oft spannungsreich und wenig vorsehbar. Die beiden Paare in Rameaus Tragédie lyrique – Hippolyte und Aricie, Thésée und Phèdre – erfahren die Macht der Götter am eigenen Leib, durch das Eingreifen von Diana, Jupiter, Pluto und Neptun. Zugleich brechen permanent seelische Regungen aus ihnen hervor, kaum beherrschbare Emotionen, gegen die alle Vernunft nichts auszurichten vermag. Verbotene Leidenschaften lodern auf, und die Liebe sucht sich ihren Weg nach ganz eigenen Gesetzen.Idylle, Geheimnis und Schrecken walten in gleichem Maße, im Wald, am Meer oder in der Unterwelt. Farbenreich und voller Kontraste ist Rameaus Musik, mit einer Vielzahl an Klängen, Formen und Ausdrucksmomenten. Tiefer Ernst paart sich mit leichtfüßigem Entertainment, lyrische Innerlichkeit mit dramatischen Zuspitzungen – ein Kosmos tut sich auf, der den Schatz der griechischen Mythen ebenso offenbart wie den Zauber des französischen Barock." (Quelle: staatsoper-berlin.de)

Gut, dass das so da steht [s.o.] - nein, wir hätten es nicht annähernd in dieser Kürze auf den Punkt gebracht.

Und trotzdem konnte man sich letzten Endes keinen Reim draus machen, wie was wo und wann auf der vom Multikünstler Ólafur Elíasson [der an diesem Hause vor 11 Jahren schon mal, nämlich bei der Henze-Uraufführung Phaedra, auf das Irritierendste versagt hatte] in Dunst und Dampf mit oder ohne Licht getauchten Bühne, die er wieder [wie bei Phaedra] mit viel Spiegeleierei versah, passierte.

Auch die von der Regisseurin/Choreografin Aletta Collins herbei- oder hinzuerkrampften Tanz-Tableaus mit schönem TänzerInnenpersonal vermochten nicht darüber wegzutäuschen, dass sie scheinbar keine große Ahnung von Personenführung hat.

In Gänze also: Üppigstes Verrätseltsein einer an sich schon rätselhaften Opernüppigkeit.

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Bravi fürs FBO, für Rattle und für einige GesangssolistInnen.

Buhs für die Collins.

Und der Ausstatter hätte sich, lt. der nachgereichten Pressemitteilung der Staatsoper, zum Schlussapplaus nicht sehen lassen, weil er "nicht wusste, dass er auf die Bühne kommen sollte und auf einem Platz mitten im Parkett saß. Herr Eliasson war mit der Vorstellung sehr glücklich, was er bei der Premierenfeier im Apollosaal zum Ausdruck brachte."

Prima, denn jetzt wissen wir auch das.

[Erstveröffentlicht auf KULTURA-EXTRA am 26.11.2018.]

HIPPOLYTE ET ARICIE (Staatsoper Unter den Linden, 25.11.2018)
Musikalische Leitung: Sir Simon Rattle
Inszenierung und Choreografie: Aletta Collins
Bühnenbild, Lichtgestaltung und Kostüme: Ólafur Elíasson
Licht: Olaf Freese
Einstudierung Chor: Martin Wright
Dramaturgie: Detlef Giese
Besetzung:
Arichie ... Anna Prohaska
Phèdre ... Magdalena Kožená
Œnone ... Adriane Queiroz
Diane ... Elsa Dreisig
La Grande Prêtresse de Diane / Une Matelote ... Sarah Aristidou
Une Chasseresse ... Slávka Zámečníková
Une Bergère ... Serena Sáenz Molinero
Hippolyte ... Reinoud Van Mechelen
Thésée ... Gyula Orendt
Tisiphone ... Roman Trekel
Pluton ... Peter Rose
Mercure ... Michael Smallwood
Première Parque ... Linard Vrielink
Deuxième Parque ... Arttu Kataja
Troisième Parque ... Jan Martiník
Tänzerinnen und Tänzer: Bruna Diniz Afonso, Ema Jankovic, Patricia Langa, Sophia Preidel, Casia Vengoechea, Yuri Fortini, Daniel Hay-Gordon, Alessandro Marzotto Levy, Will Thompson, Po-Nien Wang und Victor Villarreal
Staatsopernchor
Freiburger Barockorchester
Premiere war am 25. November 2018
Weitere Termine: 29.11. / 02., 04., 06., 08.12.2018

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Geschrieben von

Andre Sokolowski

Andre Sokolowski ist Inhaber, Herausgeber und verantw. Redakteur von "KULTURA-EXTRA, das online-magazin"

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