STAATSKAPELLE BERLIN spielt Pierre Boulez

Konzertkritik Daniel Barenboim feiert seinen Komponistenfreund und Dirigentenkollegen Pierre Boulez zu dessem 90. Geburtstag mit den diesjährigen FESTTAGEN der Staatsoper

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Gestern Abend musizierte die Staatskapelle Berlin ihren bis da womöglich "längsten" Parsifal, den es je geben sollte. Es war ein tonales Fest, das im Orchestergraben der Staatsoper im Schiller Theater stattgefunden hatte. Daniel Barenboim ließ derart breit und mit Legati spielen, dass man hätte meinen können, einen einzigen und in zig Abstufungen kolorierten Orgelpunkt gehört zu haben. Unvergesslicher, unendlich nachwirkender Klang. Ja, wer demnach der (inszenierten) Handlung nicht mehr hätte folgen wollen - Augen zu, Genick entspannt, zurückgelehnt und lauschen, lauschen, lauschen... Was für'n Klangkörper!

Paar Stunden später - heute, 12 Uhr mittags - ist die Staatskapelle wieder unter Volldampf; mit einem Großaufgebot hat sie in der (respektabel gefüllten) Philharmonie Berlin das Podium eingenommen; die Damen vom MDR Rundfunkchor sowie dem NDR Chor sind aus Leipzig und aus Hamburg angereist. Es gibt ein über 2stündiges Pierre Boulez-Programm anlässlich der gerade stattfindenden Jubilars-Hommage (zum 90. Geburtstag!), dem zentralen Teil der diesjährigen FESTTAGE der Staatsoper Unter den Linden.

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Le visage nuptial für Sopran (Mojca Erdmann), Alt (Anna Lapkovskaja), Frauenchor und Orchester zählt zu den aufwändigsten und gleichsam am seltensten gespielten Stücken von Boulez. Es ist eine 30minütige Chor-Kantate auf Texte von René Char (einem Dichter der Résistance, welchem Boulez sich stark verbunden fühlte). Das fünfsätzige Werk beinhaltet "das unerklärliche Phänomen der Liebe", wie es Staatsoperndramaturg Detlef Giese im einführenden Vortrag auf den Punkt brachte. Es beginnt also (sehr allgemein gesprochen) mit Begegnung, setzt sich fort durch Trennung, kulminiert in nicht nur sexueller Erfüllung und verwässert und verwächst sich (lt. dem abschließenden Char-Zitat) wie "ein Pferd in endlos erbitterter Feldarbeit". Es geht gesanglich und auch orchestral komplexer zu als man erwarten und begreifen könnte. Summen, flüstern, "richtig singen" (Giese); und vor Barenboim liegt eine mannshoch große Partitur. Phänomenal!

Nach der Pause steht der Violinvirtuose Michael Barenboim allein auf weiter Flur; der Saal wird ganz zum Schluss allmählich abgedunkelt... Das von ihm gespielte Werk heißt Anthémes und wird live-elektronisch über unzählige Boxen mit der vom französischen IRCAM-Institut entwickelten Klangtechnik verwandelt, wiederholt, vervielfältigt, ergänzt und sozusagen überhöht. Das hat was völlig Surreales, irritierend Sphärisches. Man möchte immer mehr und immer weiter von dem Allen hören; es macht süchtig... Irre-schön.

Die sogenannten Notations sind 12 kürzere Klavierstücke von Pierre Boulez [der Pianist Michael Wendeberg wird sie morgen, am Montag, den 30. März, komplett im Schiller Theater aufführen]. Daniel Barenboim regte seiner Zeit den Komponisten dazu an, aus den Materialien der Notations I - IV und VII Orchesterfassungen zu machen. Boulez "gehorchte", und so kam es 1980 resp. 1999 zu Uraufführungen jener Orchester-Notations mit dem Orchestre de Paris sowie dem Chicago Symphonie Orchestra - also mehr oder weniger eine eindeutige Barenboim'sche Angelegenheit!! Jetzt wollte er sie wieder aufgeführt haben, und wieder tat er jeweils die Klavier- mit den Orchesterfassungen korrespondieren lassen und erklärte kurz etwas dazu; also mit kurzen Beispielen à la "Anfang Nr. 4 bitte!"etc. pp.

Die Leute tobten vor Begeisterung.

[Erstveröffentlichung von Andre Sokolowski am 29.03.2015 auf KULTURA-EXTRA]

STAATSKAPELLE BERLIN (Philharmonie Berlin, 29.03.2015)
Pierre Boulez: Le visage nuptial
- Anthèmes 2 für Violine und Live-Elektronik
- Notations I - IV, VII für Klavier
- Notations I - IV, VII für Orchester
Klangregie und Live–Elektronik: Christina Bauer und Noid Haberl
Live–Elektronik: Carlo Laurenzi und Jérémie Henrot
Mojca Erdmann, Sopran
Anna Lapkovskaja, Alt
Damen des MDR Rundfunkchors
(Choreinstudierung: James Wood)
Damen des NDR Chores
(Choreinstudierung: Bernhard Epstein)
Michael Barenboim, Violine
Staatskapelle Berlin
Dirigent und Klavier: Daniel Barenboim
FESTTAGE der Staatsoper Unter den Linden

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Geschrieben von

Andre Sokolowski

Andre Sokolowski ist Inhaber, Herausgeber und verantw. Redakteur von "KULTURA-EXTRA, das online-magazin"

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