THE BODY MEMORY von Hang Su

Performance Textauszüge und andere "graphische Partituren" von Ronald M. Schernikau und Jürgen Baldiga über- und unterlagert mit Musik und stimmlichen wie körperlichen Gesten

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"Zwei Personen, die auf verschiedenen Seiten der Mauer wirkten, stehen im Zentrum. Jürgen Baldiga war der Fotograf der queeren Subkultur Westberlins. Noch 1986 war dagegen der Autor Ronald M. Schernikau in die DDR emigriert. Beide starben sie an den Folgen ihrer HIV-Infektion. Unveröffentlichtes aus beider Archiven bildet den Fundus dieser Erinnerungsreise, die Elemente aus Text, Performance und Konzert zu einem bilderreichen Theater vereint." (Quelle: ballhausost.de)

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Der chinesischstämmige und in Deutschland lebende Performer, Musiker und Komponist Hang Su hat heute Nachmittag im Ballhaus Ost The Body Memory zur Uraufführung gebracht. In seinem Stück zitiert er textlich wie auch visuell (z.B. mittels "graphischer Partituren") die zwei viel zu früh an AIDS Verstorbenen...

Auf einer Leinwand werden Kostproben des für den Schernikau so typisch kleingeschriebnen Wortwerks weiß auf schwarzem Hintergrund Zeile für Zeile "abgedruckt"; ich glaubte mich an Textstellen seiner Kleinstadtnovelle, seines Erlebnisberichts Die Tage in L. oder auch seines Opus magnum Legende erinnert haben zu können, möglicherweise könnten es gar unveröffentlichte Textpassagen ganz im Umfeld dieser Prosa gewesen sein. Was die Texte eint, ist ihr traumatisch-sehnsuchtsvoller Grundton, der nach Liebe und Berührung schreit, der sie lyrisch verklärt, der eine obsessive Anbetung des Körpers neben dir anstellt - in dieser Stimmungslage, diesem schreiberischen Glücksrausch gleicht ihr Autor seinem brüderlich nicht unfernen Kollegen Jean Genet, weswegen "es" den ausführenden Musikern (dem Klarinettisten Richard Haynes, dem Trompeter Paul Hübner, der Schlagzeugerin Sabrina Ma, dem Quin spielenden Hang Su) sowie dem schauspielernden Sänger Ludwig Obst gewiss nicht schwer fiel, sich dieses geschlechterübergreifenden Hauptthemas (= Liebe, Leben & Tod) jeglicher ernst zu nehmenden Literatur anzunehmen, es in ihrer Art und Weise sozusagen fortzuführen...

Der noch viel interessantere Performance-Abschnitt war dann allerdings derjenige, wo die vier Instrumentalisten nach der [obig schon ganz kurz erwähnten] "graphischen Partitur"- vermutlich aus dem Nachlass Jürgen Baldigas - zu musizieren anfingen; sie spielten, auf die Leinwand schauend, quasi wie vom Blatt, nur dass kein herkömmlicher Notentext sondern ein fast wie Blindenschrift aussehendes System die Grundlage für ihr Ab-Musizieren war. Was es nicht alles gibt!

In der Mitte der Performance schien sich Ludwig Obst dann - wie bei Hermann Hesses Demian("Der Vogel kämpft sich aus dem Ei...") - geburtenmäßig darstellen zu wollen; und das wäre wohl nur eine der vermuteten Ansichten aus dem etwas unsicher dreinschau'nden Publikum gewesen.

Es endete spirituell, ja, irgendwie.

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Schöner, in sich ruhender Gedankenabend.

[Erstveröffentlicht auf KULTURA-EXTRA am 29.09.2019.]

THE BODY MEMORY (Ballhaus Ost, 29.09.2019)
Konzept, Komposition, Regie und Bühne: Hang Su
Choreografie: Yotam Peled
Text: Daniel Schmidt und Hang Su
Mit: Paul Hübner (Trompete), Richard Haynes (Klarinette), Sabrina Ma (Percussion), Ludwig Obst (Stimme) und Hang Su (Qin)
Uraufführung war am 27. September 2019.
Eine Produktion von MAM.manufaktur für aktuelle Musik in Kooperation mit BAM! – Berliner Festival für aktuelles Musik- theater 2019 und dem Ballhaus Ost.

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Geschrieben von

Andre Sokolowski

Andre Sokolowski ist Inhaber, Herausgeber und verantw. Redakteur von "KULTURA-EXTRA, das online-magazin"

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