THE GOSPEL ACCORDING TO THE OTHER MARY

Konzertkritik Passionsoratorium von John Adams mit den Berliner Philharmonikern (Dirigent: Sir Simon Rattle)

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Es scheint nicht ausgeschlossen, dass wohl auch der Komponist und Dirigent John Adams, wie so viele andere US-Künstler, die anstehenden vier (und wenn es ganz, ganz schlimm kommt: acht) Jahre ein etwas distanziertes, um es vorsichtig dann auszudrücken, Verhältnis ihrem neuen Präsidenten gegenüber pflegen werden. Seit der Populist im Amt ist, tut er per Dekret, fast täglich, neue Fakten schaffen, die nicht nur Amerika in seinen Grundfesten verändern könnten, sondern auch den Rest der Welt. In puncto Mexiko - das hat er wieder deutlich werden lassen - wird kein mäßigender Grundimpuls die Sache mit der Mauer, die die Mexikaner zu bezahlen hätten, seines "staatsmännischen" Tuns erwartbar sein. Kein Mensch weiß derzeit, wie er weiter die Spirale heißdreht und wie es womöglich, durch Totalerhitzung selbiger, zu sich verselbständigen Schmelzvorgängen kommen könnte; Gott bewahre uns vor derartigen Überraschungen!!

In derart turbulenten Zeiten mag vielleicht auch Beten helfen - jedenfalls bot dahingehend das in den drei letzten Tagen stattgefunden habende Konzert mit den Berliner Philharmonikern, dem Rundfunkchor Berlin(Choreinstudierung: Daniel Reuss) und einer Schar von handverlesenen SolistInnen unter Sir Simon Rattle einen trostvoll-schönen Anlass; weit über 3 Stunden währten die wortreichen als wie -starken Klänge von The Gospel According to the Other Mary:

Eingebetteter Medieninhalt"Die Inspiration für dieses 2012 in Los Angeles uraufgeführte Oratorium bildet eine apokryphe Schrift aus dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert, deren Verfasserin vermutlich Maria Magdalena war, die erste Zeugin der Auferstehung Jesu.
Dennoch geht es in dieser Gemeinschaftsarbeit von Peter Sellars und John Adams nicht darum, die Bibel neu zu schreiben. Das von Sellars als Textcollage angelegte Libretto rekurriert sowohl auf Passagen aus Altem und Neuem Testament als auch auf Schriften von Mystikerinnen aus dem Mittelalter, Frauenrechtlerinnen und politischen Aktivistinnen des 20. Jahrhunderts sowie literarischen Zeugnissen von Überlebenden des Holocaust."
(Quelle: Berliner Philharmoniker)

Und in der Tat wirken jene von Sellars zusammengestellten Texte [insbesondere diejenigen der amerikanischen Sozialistin und Frauenrechtlerin Dorothy Day über die "mexikanischen Frauen"; s. unser Brückenschlag zur politischen Einleitung] weitaus interessanter (und v.a. aufregender) als die sich allzu "konventionell" gebarenden Musik-Massen von Adams. Ja und immer dann, wenn sich der Text-Mitlesende vom digitalen Übertitel-Kasten aufs Abrupteste loslösen wollte, waren (gottlob) auf- oder verschreckende Klang-Kleinereignisse zu registrieren - wenn er allerdings die meiste Zeit ganz ungestörter Weise und in Seelenruhe mitlas und sein Rezeptionsgelüst daher mehr auf das Wort und weniger den Klang gerichtet schien, stellte er sich dann schon die Frage nach dem Wie, Worum, Wozu.

Das Werk ist einfach maßlos, und vielleicht ist das der Grund, weshalb es musikalisch kaum erregt.

Interessant ist freilich, wie der Adams das musikhistorisch bis dahin recht festgelegte Regel-Muss für den Passions-Evangelisten bricht - von Bach her ist uns jener als ein Rezitierender und meistens als Tenor geläufig; Adams tut hingegen alle Rezitate gleichsam drei "Evangelisten" in die Münder legen; Daniel Bubeck, Brian Cummings und Nathan Medley - drei Countertenöre mit diversen Höhen-Unterschieden - verüben ihre Aufgabe als himmelherrlich sich artikulierendes Gesangsterzett. Spektakulär und wundervoll!!!

Kelley O'Connor (als Maria Magdalena) und Tamara Mumford (als Martha) sind genauso viel und strapaziös im Einsatz wie ihr hochbegnadeter Tenor-Kollege Peter Hoare (als Lazarus).

Wohlwollender, stürmischer Beifall.

[Erstveröffentlicht auf KULTURA-EXTRA am 29.01.2017.]

BERLINER PHILHARMONIKER (Philharmonie Berlin, 26.01.2017)
John Adams: The Gospel According to the Other Mary
Passionsoratorium in zwei Akten auf ein Libretto zusammengestellt von Peter Sellars

Kelley OʼConnor, Mezzosopran (Mary)
Tamara Mumford, Mezzosopran (Martha)
Daniel Bubeck, Countertenor
Brian Cummings, Countertenor
Nathan Medley, Countertenor
Peter Hoare, Tenor (Lazarus)
Rundfunkchor Berlin
Choreinstudierung: Daniel Reuss
Klangregie: Mark Grey
Berliner Philharmoniker
Dirigent: Sir Simon Rattle

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Geschrieben von

Andre Sokolowski

Andre Sokolowski ist Inhaber, Herausgeber und verantw. Redakteur von "KULTURA-EXTRA, das online-magazin"

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