TURANDOT an der Oper Leipzig

Premierenkritik Heike Scheele (Bühnenbild) formt für das alte kaiserliche Peking eine Bienenwabe

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Puccinis Turandot hat eigentlich dann ein fast positives, um nicht gar zu sagen progressives Titel-Ego, wenn man "es" dann unter folgenden Voraussetzungen sieht: Als junges Mädchen [lt. der mitlesbaren interlinearen deutschen Übersetzung] musste sie, die Titelheldin, wohl mit ansehen und auch erleben, wie MANN ihre Kinder- resp. Ahnenfrau aus Peking raubte - die Tataren, ein zur damaligen Kaiserzeit im fernen China nicht allein vom Feind als wild und unberechenbar erlebter kriegerischer Volksstamm, waren das gewesen. Ja und dass die das gewiss nicht unblutig erledigten und die Geraubte gar (vermuten wir) von ihnen vergewaltigt worden sein könnte, muss arge Seelenwundmale bei der geschockten Live-Zeugin kindlicher Größe hinterlassen haben. Hiervon konnte/wollte sich dann die Heranwachsende nie und nimmer mehr erholen. Rache schwor sie für die Schreckenstat. Und rächen tat sie sich hinfort - ganz stellvertretend für das durchgeschund'ne Schwachgeschlecht in der Gestalt der Frau(en) - an der Männerwelt also dem MANN an sich. Das scheint der pseudosexuelle Urschleim dieses Psychothrillers; und er ist dann noch mit ein paar ablenkenden Nebenhandlungssträngen, wie sooft bei großen Opern, angefüttert...

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Wenn es in der volkstümlichen Culinaria Asia "Peking-Enten" gibt - warum nicht auch dann "Peking-Bienen", kalauert's in uns, die wir - sofort nachdem der Vorhang hochgezogen ist - das einheitsbühnenbildnerische Grundmotiv von Heike Scheele (!), die sich das auf seine Weise hochsozialisierte Peking justament als eine Bienenwabe in der Jetztzeit (wo von China keinesfalls mehr als 'nem sog. Schwellenland die Rede sein kann) vorstellt, ausgemacht haben.

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[Sie, die besagte Bühnenbildnerin, und Balázs Kovalik, der Regisseur, sowie Sebastian Ellrich, der Kostümbildner, wuchteten vor zwei Jahren Die Frau ohne Schatten in den Raum der Oper Leipzig. Es war nicht nur eine visuelle Sensation; auch musikalisch toppte diese Inszenierung; und Jennifer Wilson, beispielsweise, sang da Baraks Weib... Die Vier hatte es nunmehr wiederholt an den Augustusplatz verschlagen, diesmal stand halt die Puccini-Turandot(in der von Franco Alfano ergänzten dreiaktigen Fassung) zur Debatte.]

Jener optisch vorgestellte Bienenstaat von Scheele/Kovalik [vom alten Neuenfels, nur zum Vergleich, gab's vor Jahrzehnten diesen von ihm mehr ins Humoristische, Absurde zugespitzten DOB-Nabucco-Skandal; so supersingulär ist die L.E.-Idee demnach letztendlich nicht] besteht, so wie wir entomologische Laien es noch vom Biologieunterricht aus der Schule wissen, überwältigender Weise aus zig Hunderten von Arbeitsbienen; und auch die Soldatenbienen oder ähnliches Gesummse gibt es da en masse: Das sind, bei Turandot, die exemplarisch dankbarsten und elitärsten sängerischen Aufgaben für - Chor, Extrachor und Kinderchor der Oper Leipzig.

Es klang atemberaubend!!!

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Einmal wird die Peking-Bienenwabe durch Hereinfuhr eines Wellness-Studios mit Saunabecken und Massagematten und der Zureichung von Opiumpfeifen (wie es Kinofreunde aus dem Film Es war einmal in Amerika, wo Robert De Niro zu Filmbeginn in einer chinesischen Opiumhöhle untertaucht, um sich rauschmittelhaft-enthusiasmiert an die 5-Stunden-Handlung rück- und vorwärts zu besinnen, irgendwie zu kennen meinten) szenisch unterbrochen. Dort haben Jonathan Michie, Sergej Pisarev, Keith Boldt als Ping, Pong, Pang ihre ministerialen Einzel- und Ensembleauftritte. Man kriegt so prima mit, wie satt es der im oberen Mittelfeld der Hierarchie befindliche Führungskader Chinas zwischenzeitlich hat - er dient zwar brav und ordentlich dem Kaiser (kabinettstückreifer Auftritt von Martin Petzold), denkt sich aber insgeheim: "Die ganze Schaumord-Scheiße mit der kaiserlichen Göhre geht uns irgendwie allmählich auf den Sack! nur fort von hier!!"

Das Massen-Ritual mit diesen vielen Hinrichtungen ist inzwischen selbstläufig geworden - Turandot, die als Inkognita inmitten ihres schwarzkapuzigen und blutrünstigen Volksbreies im Ersten Akt bereits herumschielt, wirkt da irgendwie kontrollverlustig und tut obendrein verblüfft, was Alles so um sie herum passiert... Die Wilson, übrigens, donnert mit ihrer Königsbienen-Röhre Alles (selbst den Riesenchor) in Schutt und Asche; und ihr selbstleuchtendes rotes Ampelkleid sagt permanent: "Zurück mit euch! ich bin die personifizierte Höllenglut!!"

Olena Tokar (als Liù) wird zur Premiere mit lautstarken Ovationen überschüttet. Sie und Randall Jakobsh (als Timur) vertreten die Tataren in dem Stück. Und Leonardo Caimi, dessen Stimme der von Francisco Araiza, als der noch gut singen konnte, ähnelt, sieht auch noch fantastisch aus; nur spielen kann er leider nicht besonders gut.

Der Dirigent Matthias Foremny verordnet dem Gewandhausorchester Leipzig einen messerscharfen und mitunter frostig-kalten Klang; warm/wärmer hört man's immer dann, wenn kammermusikalische Details zum Tragen kommen.

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Schlüssig und spannend erzählt.

Zwingend musiziert und gesungen.

Kurzweile und Gänsehaut.

[Erstveröffentlicht auf KULTURA-EXTRA am 23.10.2016.]

TURANDOT (Oper Leipzig, 22.10.2016)
Musikalische Leitung: Matthias Foremny
Inszenierung: Balázs Kovalik
Bühne: Heike Scheele
Kostüme: Sebastian Ellrich
Chöre: Alessandro Zuppardo
Kinderchor: Sophie Bauer
Besetzung:
Turandot ... Jennifer Wilson
Liù ... Olena Tokar
Kaiser Altoum ... Martin Petzold
Timur ... Randall Jakobsh
Der unbekannte Prinz (Calaf) ... Leonardo Caimi
Ping ... Jonathan Michie
Pong ... Sergej Pisarev
Pang ... Keith Boldt
Ein Mandarin ... Sejong Chang
Opernchor
Kinderchor der Oper Leipzig, Zusatzchor
Gewandhausorchester Leipzig
Premiere war am 22. Oktober 2016
Weitere Termine: 5., 27. 11. / 23. 12. 2016 // 14. 1. / 19. 3. / 16. 4. 2017

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Geschrieben von

Andre Sokolowski

Andre Sokolowski ist Inhaber, Herausgeber und verantw. Redakteur von "KULTURA-EXTRA, das online-magazin"

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