TUTUGURI von Wolfgang Rihm

Musikfest Berlin Spektakuläres Eröffnungskonzert mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks

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Das Sendungsbewusstsein junger kreativer Menschen speist sich anfangs - also wenn die aufkeimende Kreativität quasi kurz vor der ersten Blüte steht - aus vorbildhaften Werken völlig außerhalb der allgemeinen Norm. So ist es völlig richtig, und so war es immer schon. Der junge Wolfgang Rihm (geb. 1952) - eine längsthin magische Instanz unter den Komponisten unsrer Zeit - interessierte sich als 28jähriger besonders stark für Antonin Artaud (1896-1948), dessen Profil vielleicht unter dem Kürzel von "Genie & Wahnsinn" nachgerade leuchtet. Lebenslang tat der von Rihm Bewunderte an einer Geisteskrankheit laborieren, konsumierte Drogen, litt an sich und seiner Zeit und - gab deswegen lange, lange, lange noch nicht auf. Sein intellektuelles Oevre, um nur eines seiner Großtalente zu markieren, gipfelte in der Installation (s)eines sog. Theaters der Grausamkeit; bis heute gilt es als Geheimtipp unter eingeweihten Insidern.

Rihm komponierte also ein Poème dansé unter dem Titel Tutuguri (nach dem gleichnamigen Gedicht Artaud's, welches aus einem Hörspiel von ihm stammte); es erstreckt sich über 100 Minuten und wurde im Jahre 1982 von der DOB in Auftrag gegeben sowie uraufgeführt. Eine Berliner Heim- und Wiederkehr - anlässlich der gestrigen Eröffnung vom MUSIKFEST BERLIN - wenn man das jetzt so sehen mag:

"Nirgends sonst entfesselte er solch unbändige Elementarkräfte, nirgends sonst wird der Rhythmus, wird das Schlagwerk so sehr zur Mitte und zum Ziel der Musik wie in dieser Partitur, deren letzten Teil die Schlagzeuger allein mit einem über Lautsprecher zugespielten Chor bestreiten. Ihre Aufbauten beherrschen den Bühnenraum, vier Tamtams sind zudem im Auditorium positioniert. Sie wirken als Zentrum und treibende Kraft in einer rituellen Musik [...] über den Kult der Schwarzen Sonne, den die Tarahumaras in Mexiko einmal jährlich feiern, ein Ritual, das seine Teilnehmer in andere Bewusstseinszustände hebt." (Quelle: Berliner Festspiele)

Gleich zu Beginn tritt Graham Forbes Valentine (früher ein von uns sehr gern und regelmäßig registrierter Gast bei Marthaler's) mit dem besagten Tutuguri-Gedicht auf, welches er ganz obsessiv-extrem, als wäre er höchstselbst der Dichter, der sich augenblicklich vor, während oder auch nach 'nem geistig-physischen Zusammenbruch befände, vorträgt.

Und erst danach folgen die vier turbulenten Großorchester-Sätze, die mit grelltönenden Chorpassagen (ausschließlich aus der Konserve Lautsprecher) und vielem, vielem, vielem Schlagwerk in Aktion - einschließlich der raumfüllenden Gongschalls, die die vier im Saal rundum verorteten Tamtams erzeugen - angereichert sind. Man ist geneigt gewesen, mehrere Zitate (Mahlersinfonien, Wagners Götterdämmerung, Psycho von Hitchcock, Wilhelm Tell Rossinis usf.) "erkannt" zu haben. Alles, alles, alles: stark beeindruckend!!!

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Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks (Dirigent: Daniel Harding) und die sechs Solo-Schlagzeuger Christian Pilz, Bart Jansen, Markus Steckeler, Ignasi Domènech Ramos, Wolfram Winkel und Jochen Ille sorgten für den (höchstwahrscheinlichen) Hauptkracher der 2016er Saison.

Ausufernde Begeisterung.

[Erstveröffentlicht auf KULTURA-EXTRA am 04.09.2016.]

Musikfest Berlin

SYMPHONIEORCHESTER DES BAYERISCHEN RUNDFUNKS (Philharmonie Berlin, 03.09.2016)
Wolfgang Rihm: Tutuguri
Poème dansé nach dem Gedicht Tutuguri aus dem Hörspiel Pour en finir avec le jugement de dieuvon Antonin Artaud für großes Orchester, Schlagzeuger, Chor vom Tonband und Sprecher
Graham Forbes Valentine (Sprecher)
Christian Pilz, Bart Jansen, Markus Steckeler, Ignasi Domènech Ramos, Wolfram Winkel und Jochen Ille (Solo-Schlagzeuger)
Zoro Babel (Klangregie)
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks
Dirigent: Daniel Harding

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Geschrieben von

Andre Sokolowski

Andre Sokolowski ist Inhaber, Herausgeber und verantw. Redakteur von "KULTURA-EXTRA, das online-magazin"

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