TUZUB 37 nach Paul Gurk

Uraufführung Berliner Experimentalmusik-Duo MENSCH MENSCH MENSCH entreißt dystopischen Roman aus der NS-Zeit dem Totalvergessen

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Bildquelle: ackerstadtpalast.de

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Zu folgenden drei sachdienlichen Komponenten galt es im Voraus ein paar Recherchen anzustellen, um nicht völlig "unbeleckt" zur Uraufführung jenes audio-visuellen Bühnenstückes TUZUB 37 - gestern Abend im Berliner Acker Stadt Palast - zugegen gewesen zu sein:

Die literarische Vorlage ist 1.) das gleichlautende Buch des heute völlig in Vergessenheit geratenen Dichters und Malers Paul Gurk (1880-1953). Jener 1935 geschriebene fantastische Roman wird 2.) auch als "dystopisch" bezeichnet; das ist das prinzipielle Gegenteil von Utopie und meint beispielsweise solche Romane wie Orwells 1984, um den vielleicht populärsten dieser "Reihe" zu benennen. Und 3.) geht's in TUZUB 37 ungefähr um das hier: Eine anonymisierte Menschen- oder Übermenschenspezies (schlicht, einfach und ergreifend als "die Grauen" in Erscheinung tretend) hat sich unsre vormals schöne blaue Erde sozusagen maschinell zum Untertan gemacht, man lebt nicht mehr, man existiert nur noch...


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Originalausgabe, Holle & Co., Berlin 1935 | Bildquelle: Wikipedia

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"Unterschiedlich miteinander verschränkte narrative und assoziative Ebenen aus Text, Video und elektro-akustischer Musik evozieren eine düstere Endzeitvision aus einer dunklen Zeit, die sowohl die Massenideologie und Brutalisierung während der Nazizeit reflektiert, als auch bereits Szenarien gesellschaftlicher Medialisierung sowie der Einflussnahme des Menschen auf die Natur kulturpessimistisch vorwegnimmt." (Quelle: ackerstadtpalast.de)

Das [s.o.] reizte die zwei Protagonisten des Berliner Experimentalmusik-Duos MENSCH MENSCH MENSCH - Liz Allbee und Burkhard Beins - zur assoziativen Ausgestaltung, hierzu holten sie sich noch den Schauspieler Paul Sonderegger zum Zitieren von diversen Textstellen.


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Burkhard Beins und Liz Allbee audiovisualisierten TUZUB 37 | Bildquelle: ackerstadtpalast.de

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Das, was wir hörten (Texte, Klänge & Geräusche) klang schon sehr beängstigend und machte depressiv:

"Menschenplanwirtschaft" und "Hochstadt" und "Geräuschplatten zur Beförderung des Tiefschlafs" und "Besitz ist Einsamkeit" und "Anlasser vermitteln" und "der Fortschritt schreitet unaufhaltsam fort" sind nur einige der unverwechselbaren Worte oder Phrasen, die das merkwürdige Buch dann so zu bieten hat.

Die Videofilme, die die Textstellen entweder kommentieren oder konterkarieren, zeigen monotone Tunnelfahrten (Zeichen "grauer" Zivilisation) und abweisende Landschaften mit blubbernd-schwarzem Schlamm und brennenden Dämpfen darüber (Zeichen der von den "Grauen" letzten Endes völlig zerstörten und somit doch unurbach gemachten Natur); auch eine grell und fies aufblitzende Glühbirne, die Michael Vorfeld in das Bild setzte, ist zu sehen.

Was wir deutlich mitbekommen, ist, dass die von dem Romanautor Paul Gurk gedachte gesellschaftlichsähnliche "Vision" - eine Un-Utopie, wie gesagt - in Gänze zum Scheitern verurteilt sein sollte, denn: Kurz nachdem die Austrocknung der Meere zum ehrgeizigen"grauen" Endziel anvisiert gewesen war und selbige auch in der Tat erfolgte (auch zu lesen als schön-schräge Auseinandersetzung Gurks mit der nationalsozialistischen These vom Volk-ohne-Raum), schlägt die Natur halt unerbittlich zurück. Kein Wasser = kein Leben.

Ja und so regnet es zunächst Tiere vom Himmel - was wiederum als ausnahmsweise distanziert-humoriger Filmeinfall von uns mehr denn fassungslos Dahinstaunenden zur Kenntnis genommen wurde - , und danach wird es halt immer schlimmer; giftige Gase steigen nach oben und... der sog. "TUZUB 37" würde dann, als "grau"-bauliche Kulmination des Ganzen, das wohl allerallerhöchste Gebäude dieser Welt sein, wo noch Leben (Leben?) möglich wäre, also ganzganzganz weit oben, wo die Giftgase noch nicht dann hingedampft sein werden usw. usf.

So endete das Stück.

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TUZUB 37 von Paul Gurk mittels der insgesamt gelungenen Performance ausgegraben und somit der allgemeinen Vergessenheit entrissen zu haben ist eines der nicht zu verachtenden Verdienste des Projekts, das von der Initiative Neue Musik Berlin e.V. unterstützt wurde.

Es gab (und gibt?) leider nur diese eine einzige Aufführung, die wir gottlob dann nicht verpassten.

[Erstveröffentlichung von Andre Sokolowski am 02.09.2015 auf KULTURA-EXTRA]

TUZUB 37 (Acker Stadt Palast, 01.09.2015)
Komposition, Textbearbeitung, Video, Audio, Licht und Live-Elektronik:
MENSCH MENSCH MENSCH - Liz Allbee und Burkhard Beins
Sprecher: Paul Sonderegger
Glühlampensequenz: Michael Vorfeld
Uraufführung war am 1. September 2015
Gefördert durch die Initiative Neue Musik Berlin

http://www.burkhardbeins.de/groups/mensch.html
http://www.burkhardbeins.de
http://www.lizallbee.net
http://www.paul-sonderegger.de

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Geschrieben von

Andre Sokolowski

Andre Sokolowski ist Inhaber, Herausgeber und verantw. Redakteur von "KULTURA-EXTRA, das online-magazin"

Andre Sokolowski

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