Vergreisen unsere Konzertsäle?

Debatte Über das Gastspiel der Wiener Philharmoniker in der wiedereröffneten Staatsoper Unter den Linden weit hinaus gedacht

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Nirgendwo anders wird die Kluft zwischen Alt und Jung so unbarmherzig offensichtlich wie in Auditorien deutscher Opernhäuser und Konzertsäle: Das zuschauende als wie zuhörende Gros besteht aus Menschen jenseits ihres sozialabgabepflichtigen Arbeitslebens; darunter freilich auch weitaus wohlhabendere Exemplare, also Leute, die nicht weiter rechnen müssten, um egal wie viele Euro für den einen oder andern Hype der Hochkultur aufs Anstandslose hinzublättern. Dieser Sachverhalt führte und führt zu Eintrittspreis-Gestaltungen, die schon mitunter eine abenteuerliche Größenordnung in sich bergen - völlig unterschiedlich, denn man will und wird zwischen den Metropolen arg differenzieren müssen; "Reichtum" definiert sich halt im gutbetuchten München völlig anders als im Arm-aber-Sexy-Berlin. Fakt ist, dass es - trotz ausgleichender Eintrittspreisstrukturen - Hemmschwellen sowie Berührungsängste insbesondere bei Jüngeren (und Jüngsten) gibt. Wie aber kann dem allgemein beobachtbaren Hang zur Publikumsvergreisung auf das Animierendste begegnet werden?

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Daniel Barenboim versucht die Kluft dann immer wieder mal - auf Kosten von "uneigennützigen" Sponsoren und dem brav zahlenden Steuerzahler - zu durchbrechen, wenn er solche Groß-Events wie beispielsweise STAATSOPER FÜR ALLE oder Live-Großleinwand-Übertragungen nach draußen praktizieren lässt. Das kommt beim (alten sowie jungen) Fußvolk meistens prima an und hat einen enormen Werbe-Beieffekt; wir haben prinzipiell ja nix dagegen.

Jetzt (ganz neu!) gibt es das Eintritt-frei-Format KONZERT FÜR BERLIN; es fand nun erstmals gestern Mittag statt und weihte das als jeweils provisorisch aufgebaute "Konzertzimmer" in der wiedereröffneten Staatsoper Unter den Linden ein - man wird es in der Zukunft auch als regelmäßiges Konzertpodium fürs eigene sowie gastierende Orchester nutzen; Barenboim tat Populäres dirigieren, und die kostenlosen Eintrittskarten gab es durch Verlosungen... Auch nicht die schlechteste Idee.

Ja und wie schließen wir den Kreis zu dem, was wir - im Kontext zu dem Gastauftritt der Wiener Philharmoniker [s. Text nach dem Sternchen!] - eigentlich dann sagen wollten??

Erstens: Setzt euch noch verstärkter dafür ein, dass in den allgemeinbildenden Schulen die Heranführung unsrer Heranwachsenden an Musik (wieder) mehr fortschreitet; dazu gehört halt auch qualifizierter und v.a. kontinuierlicher Musikunterricht; das Lehrer-Wegsparen gerade dort würde sich für die Zukunft rächen [s. Eingangstext].

Zweitens: Lasset die Kinder (wenigstens bis zur Erreichung ihres Kommunions- bzw. Jugendweihealters) kostenfrei in Opern und Konzerte gehen; Hänsel und Gretel, im Dezember, bietet sich da beispielsweise als Signal-Projekt vorzüglich an; mit Hänsel und Gretel erlebten immer schon nicht nur berühmteste Berühmtheiten ihr kindlich-initialzündendes Erstbegegnen mit Musik.

Drittens: Nicht nur der Barenboim sollte im Massen-Medium (Fernsehen, Web, Social Media usw.) Opern und Konzerte für die bis da völlig "Unerfahrenen" erklären und somit auch breitenwirksam werben; ja, er kann das, und er wird sich solange die Zeit für so was nehmen müssen wie es keinen Besseren als ihn für so was gibt. Sein Schicksal auch, seine Verantwortung!!

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Staatsopern-Ehrendirigent und Weltstar Zubin Mehta dirigierte Brahms, Haydn und Bartók:

Los ging's mit der Tragischen Ouvertüre; sie wurde 1880 vom gastierenden Orchester im Wiener Musikverein uraufgeführt. Die Darreichung erfolgt, würde man meinen wollen, von Authentikern. Sie werden sich womöglich über ihren eig'nen Klang in der akustisch absolut zu deren Gunsten verändert habenden Berliner Staatsoper gewundert haben - wie er durch das Raumrund kräftig atmet und wie vollmundig (und dennoch nicht verfressen) er sich nimmt... Die Interpretation des Stückes: akademisch.

Sophie Dartigalongue (Fagott), Martin Gabriel (Oboe), Rainer Honeck (Violine), Robert Nagy (Violoncello) sind die vier SolistInnen beim Opus HOB.I:105... Die Wirkung: musikantisch, spielfreudig und virtuos.

Und Bartóks meistgespieltes Werk birgt Atmosphärisches und Altbekanntklingendes in sich; Herzog Blaubarts "Tränensee" erkennen wir sofort, auch schimmern lustige Zitate aus Lehars Lustiger Witwe durch... Spontaneindruck: gefällig, unspektakulär.

Doch erst beim Frühlingsstimmenwalzer (als einziger Zugabe) will das Berliner Publikum schier vor Begeisterung ausflippen - - jajaja, der sagenhafte Weltruf des Orchesters rührt natürlich und v.a. von den Johann-Strauß-Konzerten her; der Eine oder Andere von uns hängt sicher regelmäßig, und ob mit oder ob ohne Kater, neujahrs vor der Glotze.

[Erstveröffentlicht auf KULTURA-EXTRA am 08.10.2017.]

WIENER PHILHARMONIKER (Staatsoper Unter den Linden, 07.10.2017)
Brahms: Tragische Ouvertüre d-Moll op. 81
Haydn: Sinfonia concertante B-Dur HOB. I:105
Bartók: Konzert für Orchester
Rainer Honeck, Violine
Robert Nagy, Violoncello
Martin Gabriel, Oboe
Sophie Dartigalongue, Fagott
Wiener Philharmoniker
Dirigent: Zubin Mehta

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Andre Sokolowski

Andre Sokolowski ist Inhaber, Herausgeber und verantw. Redakteur von "KULTURA-EXTRA, das online-magazin"

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