VOLKSBÜHNE BERLIN 2017

Kommentar Chris Dercon beerbt Frank Castorf

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Wer Chris Dercon ist, wussten im Hauptstadtdorf Berlin bis vor paar Tagen nur die eingeweihten Sachverständigen. Dass er "Kurator" wäre, war zuletzt durch alle Feuilletons - also auch außerhalb des sich höchstselbst als Kunst-, Musik- und (hauptsächlich:) Theatermetropole einzigartig Definierten - ausgestreut worden. Man musste schon, um sich ein halbwegs objektives Bild zu machen, etwas nachhaltiger recherchieren; so was klappt dann meistens, wenn man Wikipedia aufruft, und dort steht tatsächlich, dass der 1958 im belgischen Lier Geborene und Noch-Direktor der Tate Gallery of Modern Art in London ein"Kurator" ist:

"Dercon studierte von 1976 bis 1982 in Amsterdam und Leiden Kunstgeschichte, Theaterwissenschaften und Filmtheorie. Im Anschluss arbeitete er als freier Mitarbeiter für Kunst und Kultur beim belgischen Rundfunk und Fernsehen sowie von 1983 bis 1988 beim Hoger Instituut voor Beeldende Kunsten (Brüssel) als Dozent der Fachbereiche Video und Kino. 1988 wechselte Dercon als Programmdirektor ans Institute of Contemporary Art P.S. 1 nach New York. 1990 wurde er Direktor des Witte de With, Zentrum für zeitgenössische Kunst in Rotterdam. 1994 wurde er für die künstlerische Leitung der documenta X nominiert. 1996 realisierte er die Ausstellung Face à l'Histoire für das Centre Georges Pompidou in Paris. Von 1996 bis April 2003 war Chris Dercon Direktor am Museum Boijmans Van Beuningen in Rotterdam, von Mai 2003 bis März 2011 Direktor des Hauses der Kunst in München.
Chris Dercon verankerte neben der zeitgenössischen Kunst auch Architektur, Design, Mode, Film und Fotografie im Programm des Hauses der Kunst. Außerdem initiierte er den 'Kritischen Rückbau' des Hauses, d.h. er machte bauliche Änderungen, die nach dem Zweiten Weltkrieg als architektonische Entnazifizierung galten, rückgängig, um den Blick auf den Ursprung des Hauses freizulegen und eine Auseinandersetzung mit seiner Geschichte zu ermöglichen. Unter seiner Leitung lud das Haus der Kunst zahlreiche zeitgenössische Künstler und Kulturschaffende ein, die monumentalen Räume kritisch umzudeuten: Patti Smith, Yoko Ono, Zaha Hadid, Rem Koolhaas, Robert Storr, Christoph Schlingensief und den chinesischen Künstler Ai Weiwei.
Berlins Regierender Bürgermeister und Kultursenator Michael Müller bestätigte Ende April 2015, dass Chris Dercon ab 2017 die Nachfolge von Castorf als Intendant der Volksbühne Berlin antreten wird."
(Quelle: Wikipedia)

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Zu jenen eingeweihten Sachverständigen, die halt ihr Eingeweihtenwissen bis zu ihrem hochspektakulären Umbesetzungs-Coup [= Dercon wird Nachfolger von Castorf] mehr für sich behielten und die Öffentlichkeit sprich Kulturschaffenden innerhalb und außerhalb Berlins von einer irgendwie dann demokratisch anmutenden Diskussion geschweige Mitsprache ausschlossen [= 'WIR sind die gewählten Volksvertreter, und was WIR beschließen, ist im Volkessinne'], zählen die zwei Hauptprotagonisten: der Regierende Bürgermeister und Kultursenator von Berlin und sein für die Kulturfragen zuständiger Staatssekretär. Der Erstbezeichnete ist, was ihm keiner weiter vorwirft (außer dass er sich noch immer dann Kultursenator nennt bzw. nennen darf), in Kunst- oder Kultursachen ein bisschen unbeleckt und ungelenk - der Zweitbezeichnete hat einen etwas anderen Geschmack als eingefleischte Fans und Kenner der Ästhetik von Frank Castorf, dem bis dahin usurpatorhaft am Rosa-Luxemburg-Platz berserkernden Künsterintendanten der seit über hundert Jahren dort stehenden Volksbühne. Tim Renner - so der Name dieses vorwitzigen Burschen - setzte also jetzt mit intrigal anmutender Brachialgewalt das durch, was er von Anfang an so wollte und weswegen er Castorfs Vertrag über 2017 hin nicht mehr verlängerte: den Sturz des Patriarchen und somit die Opferung einer bis heute beispiellos nach innen wie nach außen wirkenden Institution - eines Theaters, was es so noch nie zuvor gegeben hatte. Weg damit!!

Eine bis da so selten oder nie erlebte Grunddebatte (ausgelöst durch einen hocherregten Einwurf von Claus Peymann) demonstrierte auch die sich verselbständigt habenden Schieflagen in unserer Zivilgesellschaft, zeigte, was da insgesamt so alles schief läuft und wie Kunst/Kultur - noch immer dieses ominöse fünfte Rad am Wagen, wenn's um Kosten und Verteilung geht - im Allgemeinen wahrgenommen werden. Die drei prominenten Sprechtheater-Intendanten Joachim Lux, Ulrich Khuon und Martin Kusej hatten Recht, als sie in ihrem Offnen Brief von einem Handstreich "in den Hinterzimmern der Politik" ausgingen, ja - genauso kam es, und die Solidaritäter meinten außerdem:

"Berlin braucht keinen Aufbruch in die Zukunft, der mit der Abrissbirne daherkommt. Berlin braucht Frank Castorf und sein Künstlerkollektiv."

Es hatte nichts genützt, der vorwitzige Bursche hat sich durchgesetzt.

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Nun ist es also Fakt: Chris Dercon wird die Volksbühne 2017 übernehmen. Gestern (bei der Pressekonferenz) nannte er auch die ersten Namen seiner designierten Mitarbeiter, Mitstreiter, Mitformer, Mitgestalter - Romuald Karmakar, Boris Charmatz, Alexander Kluge (83) beispielsweise.

Alle Genres, die die Kunst im Allgemeinen so parat hat, werden demnach in dem neuen Schmelztiegel der "neuen" Volksbühne zusammentreffen; eine Art von neuzeitigem Turm zu Babel oder so - - jaja, es hätte allerdings noch schlimmer kommen können.

Soviel wurde immerhin schon klar: Außer dem Haus am Rosa-Luxemburg-Platz würden dann noch das dort ebenfalls befindliche Programm-Kunstkino Babylon sowie die Hangars auf dem Tempelhofer Feld bespielt. Von ca. 5 auf ca. 22 Millionen Euro wird der Volksbühnen-Etat erklecklich angehoben; er wird niemals ausreichen für alle diese zusätzlich (außer der vollmundig versprochenen Erhaltung eines Fest-Ensembles) durchrührenden und vermengenden Bestrebungen. Und viel konkreter wollte oder konnte man zu diesem frühen Zeitpunkt vor dem anstehenden Grundstruktur-Wandel wohl auch nicht werden.

Die Berliner Morgenpost [in ihrer Ausgabe von heute] führte auch sogleich ein pfiffiges Chris Dercon-Interview, wo u.a. das Folgende zu lesen steht:

"Was ist eine Eventbude?

[Chris Dercon:] Mich interessieren Events überhaupt nicht. Events sind punktuelle Ereignisse, die das Theater keinen Millimeter nach vorne bringen.

Mögen Sie Spektakel?

[Chris Dercon:] Pollesch ist Spektakel. Tocotronic ist Spektakel. Natürlich liebe ich Spektakel. Castorf ist auch Spektakel, wobei bei ihm die Stücke für meinen Geschmack oft zu lange dauern. Es fällt nicht immer leicht, fünf Stunden durchzuhalten."

Castorf jedenfalls hat sich bei allem Krach bisher erstaunlich rar gemacht - kein offizieller Kommentar (zu nix von alledem) sickerte bisher durch. Er ist - als Regisseur und Künstler - mehr gefragt als je zuvor. Und sowieso hatte er in der jüngsten Zeit verstärkter Maßen anderswo und also außerhalb des eignen Hauses die Ästhetik seiner selbst und des/eines Gesamtkunstwerkes um es her umsetzen können, ob beim Ring in Bayreuth, ob mit Baal am Münchner Resi, ob mit Jahnn-Stücken im Burgtheater Wien oder in Hamburg (Deutsches Schauspielhaus)... und bald schon wieder Wien, diesmal mit Dostojewskis Brüdern Karamasow.

Wenn die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in zwei Jahren dann ein neues Logo haben wird und sich womöglich etwas anders nennt als heute - die Kulturlandschaft um sie herum wird sich vielleicht bis dahin auch etwas geändert und verändert haben, aber gänzlich untergehen? nein, das wird sie nicht.

Freuen wir uns daher - und ungeachtet des kulturpolitisch stattgefunden habenden Skandals wie seiner merkwürdigen Folgen - auf die zwei noch ausstehenden spannenden und typischen Frank Castorf-Spielzeiten sowie (auch!!) auf den absoluten Neubeginn 2017: mit, von und durch Chris Dercon, der letztlich (so wie alle Inthronisatoren) nur das Gute im Gesamten will.

[Erstveröffentlichung von Andre Sokolowski am 25.04.2015 auf KULTURA-EXTRA]

"Die Volksbühne Berlin (heute Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz) entstand 1890 während einer Gründungsversammlung des Vereins FREIE VOLKSBÜHNE. Von ihr spaltete sich im Jahr 1892 vorübergehend die Neue Freie Volksbühne ab, die durch den starken Zuwachs ab 1902 genug Mittel erhielt, sich auch ein eigenes Gebäude zu bauen.

Das heutige Theater befindet sich am Rosa-Luxemburg-Platz im Ortsteil Mitte. Es entstand unweit des 1891 abgerissen Victoria-Theaters. Es wurde zwar vor dem Ersten Weltkrieg als gemeinsames Haus der (später wiedervereinten) FREIEN VOLKSBÜHNE und der NEUEN FREIEN VOLKSBÜHNE erbaut, hatte als solches jedoch nur bis zum 17. Mai 1933 Bestand. Ab 1947 wurde das Haus als VOLKSBÜHNE unter Hoheit des FDGB bespielt. Nach dem Mauerfall übernahm es Frank Castorf."


(Quelle: Wikipedia)

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Geschrieben von

Andre Sokolowski

Andre Sokolowski ist Inhaber, Herausgeber und verantw. Redakteur von "KULTURA-EXTRA, das online-magazin"

Andre Sokolowski

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