WOYZECK INTERRUPTED in den DT-Kammerspielen

Premierenkritik Live-Stream auf der neuen Plattform "dringeblieben.de"

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"Alles steht im Zeichen der Unterbrechung: Die Proben zu einer Inszenierung von Büchners Woyzeck sind kurz vor der Premiere unterbrochen, die Affäre des Hauptdarstellers mit der Hospitantin ebenfalls, genauso wie ihre Schwangerschaft und die Zukunftsphantasie eines gemeinsamen Kinds. Sogar ihre Trennung kommt durch einen Lockdown zum Stillstand. Das Paar, das kein Paar mehr sein kann und vielleicht auch nie war, ist in einer Wohnung eingesperrt, zurückgeworfen auf seine wechselseitigen Abhängigkeiten und auf die Echos von Büchners Text." (Quelle: deutschestheater.de)

Das [s.o.] ist der Plot zu Woyzeck Interrupted von Mahin Sadri und Amir Reza Koohestani- heute Abend wurde das Projekt als Stream-Premiere auf der Plattform DRINGEBLIEBEN.DE gezeigt; die eigentliche Uraufführung in den Kammerspielen des DT, also vor Publikum, wurde auf nächstes Jahr verschoben.

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Dem Vernehmen nach ist es, ganz vordergründig, ein an Aktualität und insbesondere an aktuelle Notseinslagen von Theaterschaffenden schwer überbietbares Scheinwerferschlaglicht, das vielleicht mit "Arbeit, Liebe und Verzweiflung in Coronazeiten" burschikos auf einen Nenner hin gebracht sein könnte - aber selbstverständlich ist es, über den (Corona-)Plot hinaus, weit mehr als das.

Die 1979 in Rasht geborene iranische Autorin (die die letzten Jahre auch als Schauspielerin in den Münchner Kammerspielen arbeitete) erwähnte im Werkstattgespräch mit Sima Djabar Zadegan, der Übersetzerin jenes besagten Stückes, den Begriff des sog. Femizids, "also der Tötung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts"; ich kannte die Vokabel bisher nicht. Wenn es demnach, wie Dramaturg und Stückeschreiber John von Düffel in der audiellen Werkbeschreibung mitteilte, tatsächlich immer noch so ist, dass hierzulande beispielsweise jeden dritten Tag die Tötung einer Frau durch ihren Partner oder Expartner erfolgte, ist und war es freilich bis zu einer Dokumentation über 120 Frauenmorde in Deutschland nicht sehr weit - und das iranische Autoren-Duo würde sich in all die abartigen Fälle nach und nach dann eingelesen haben, noch bevor es seinen Woyzeck Interrupteds chrieb.

*

Lorena Handschin spielt Marie (die Hospitantin), Enno Trebs spielt Franz (den Woyzeck-Schauspieler). Die Handlung fängt nach ihrem Kennenlernen resp. Erstmals-miteinander-Schlafen und infolgedessen Maries ungewollter Schwangerschaft vor einem Halbjahr an, da sieht man, wie sie ihm - inzwischen tun die beiden ihre meistens (wegen des gerade anhaltenden Lockdowns) untätige Freizeit in der Franzwohnung verbringen; doch Marie will, was von ihr bald mitgeteilt sein wird, dort auf dem schnellstmöglichen Wege ausziehen; ihr ungewolltes Kind hatte sie zwischenzeitlich auch schon abgetrieben, was dem Franz am Ende nicht so ganz gefiel - lustlos die Haare schneidet. Beidseitig liegt Aggressionsbereitschaft in der Luft; die Decke fällt ihnen allmählich auf den Kopf. Banale Alltagsdialoge auch, nichts Liebenswertes in der Wort- und Satzwahl. Nur noch Überdruss und dieses merkbare Gefühl von ihr (à la "Ich will hier raus") und ihm (à la "Dann hau doch ab"); so etwas kennt man ja, denn wo die Liebe nicht mehr hinfällt, klingt es auch dann nicht mehr allerliebst. Jedoch:

Franz ist auf ungesunde Art und Weise eifersüchtig - halt wie Woyzeck, den er spielt und dessen Ego er bald nicht mehr von dem eignen Ego unterscheiden kann, weswegen er sich auch mit einem Psychotherapeuten via Internet verabredet und unqualifiziert beraten lässt; ja und wir Zuhörer & Zuseher bemerken gleich von Anfang an, dass das bloß eine Art Persönlichkeitsaufspaltung Franz & Woyzeck ist, und dass es also diesen Psychotherapeuten in realo gar nicht gibt.

Kurzum - nicht unähnlich wie in dem Büchnerstück - :

Er tötet sie, weil sie inzwischen einen andern hat.

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Die progressive Zuspitzung - vom Haareschneiden bis zum Mord - erfolgt in sechs "3 Tage später"-Takten.

Dazwischen immer wieder kurze Protokoll-Notizen aus der schon erwähnten Dokumentation über die hundertzwanzig Frauenmorde.

Die Franz/Woyzeck-Wohnung (Arbeitszimmer, Küche, Bad und Schlafzimmer) baute die Bühnenbildnerin Mitra Nadjmabadi, und Guillaume Cailleau, Phillip Hohenwarter und Benjamin Krieg verfremdeten das Alles, v.a. bei den Protokollzitaten zwischendurch, durch visuelle Überblendungen.

Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass ein "alter" (guter!) Stücktext kaum durch einen "neueren" (weniger guten) je entkräftet werden könnte. Nein, nicht mal im Ansatz funktionierte so etwas.

Aber man hatte sich aufs Redlichste bemüht.

[Erstveröffentlicht auf KULTURA-EXTRA am 19.12.2020.]

WOYZECK INTERRUPTED (Kammerspiele des Deutschen Theaters Berlin, 19.12.2020)
von Mahin Sadri und Amir Reza Koohestani nach Georg Büchner
Übersetzung: Sima Djabar Zadegan

Regie: Amir Reza Koohestani
Bühne: Mitra Nadjmabadi
Kostüme: Lea Søvsø
Video: Phillip Hohenwarter und Benjamin Krieg
Musik: Matthias Peyker
Licht: Kristina Jedelsky
Dramaturgie: Sima Djabar Zadegan und John von Düffel
Mit: Lorena Handschin und Enno Trebs
Stream-Konzeption: Guillaume Cailleau, Phillip Hohenwarter und Benjamin Krieg
Bildregie und Schnitt: Guillaume Cailleau
Stream-Premiere am 19. Dezember 2020 auf dringeblieben.de

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Andre Sokolowski

Andre Sokolowski ist Inhaber, Herausgeber und verantw. Redakteur von "KULTURA-EXTRA, das online-magazin"

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