Die Aufregung hat sich etwas gelegt, auch wenn eigentlich noch gar kein strenger Beweis für die Behauptung vorliegt, dass hinter dem Pseudonym Elena Ferrante die Übersetzerin Anita Raja steckt. Aber die Aufregung galt ja primär auch nicht der erfolgreichen Autorin hinter dem Pseudonym, sondern vielmehr der Art der „Enttarnung“ durch die Wirtschaftszeitung Il Sole 24 Ore.
Wer wie der Journalist Claudio Gatti, 60, in Grundbüchern und Überweisungen liest, der greift zu investigativen Werkzeugen, die man normalerweise bei der Fahndung nach Steuerhinterziehern oder Mafiosi vermutet, wie Ferrantes Verleger Sandro Ferri beklagte. Oder bei internationalen Machenschaften, wie dem Skandal um „Oil for Food“. Damals war Gatti einer der Ersten, die über die Korruption in diesem Hilfsprogramm für die irakische Bevölkerung berichten. Investigativ ist er nun also auch im Fall Ferrante vorgegangen. Dabei ist er seiner Methode treu geblieben. Anstatt wie der Literaturkritiker Marco Santagata die Romane philologisch und stilistisch unter die Lupe zu nehmen (und sich zu verhauen), entschied sich Gatti, von Beruf her eben mit Zahlen vertrauter als mit linguistischen und stilistischen Feinheiten, für die „Follow the money“-Piste.
Was für internationale Entrüstung sorgte, bescherte dem Sole 24 Ore so einen, wenn auch nur kurzen Lichtblick. Die Zeitung im Besitz der Confindustria (dem italienischen Industrieverband), durchlebt nämlich gerade sehr stürmische Zeiten. Eine Karikatur brachte die missliche Lage so auf den Punkt: „Auf Ferrantes Spuren stieß Il Sole 24 Ore auf sein eigenes 50-Millionen-Euro-Loch.“
Trotzige Überreaktion
Lange Zeit schenkten die Kulturredaktionen Ferrantes Romanen keine besondere Aufmerksamkeit, eher eine geflegte Verachtung (vgl. Der Freitag 36/16). Und das Versteckspiel der Autorin schien mehr zu irritieren als zu interessieren, und so kam es, dass voriges Jahr die Geschichte des verlorenen Kindes (der Abschluss der Tetralogie Meine geniale Freundin), nur Dritter beim Strega-Literaturpreis wurde. Es könne doch nicht eine gesichtslose Autorin gewinnen, sollen sich die Juroren einig gewesen sein.
Eine heftige Aufmerksamkeit, die in eine fast trotzige Überreaktion umschlug, Ferrantes Identität, koste es, was es wolle, zu enttarnen, folgte erst, nachdem das Time Magazine die Schriftstellerin dieses Jahr zu den 100 einflussreichsten Menschen der Welt kürte, die Geschichte des verlorenen Kindes in die Shortlist des Man Booker International Prize landete und Hillary Clinton wissen ließ, dass sie ganz verrückt nach Ferrantes Büchern sei.
Dass dem enormen Erfolg einer Autorin in den Vereinigten Staaten nicht automatisch eine ähnlich enorme literarische Qualität vorangeht, versteht sich von selbst. Aber das Problem liegt tiefer, nämlich im schlechten Zustand der italienischen Literaturkritik. „In Italien gibt es mittlerweile keine Literaturkritiker wie Giacomo Debenedetti und Cesare Garboli mehr. Sie verstanden es, über die Medien und anhand der besprochenen Bücher auch Sinn und Aufgabe der Literaturkritik zu vermitteln“, stellt Salvatore Silvano Nigro, Philologe und Literaturprofessor an der Mailänder Universität IULM, trocken fest.
„Heute gilt die Literaturkritik als zweitrangig. An erster Stelle kommen Bücher, die eine Debatte lostreten, gleich wie banal und sinnlos diese auch sein mag. Das Geschwätz in den sogenannten ‚Literarischen Salons‘ genießt bei den Kulturressorts große Aufmerksamkeit.“ Besser noch, wenn Gossip zur provokativen Polemik wird. Die Italiener lieben es zu polemisieren, tun es viel lieber, als einfach nur zu diskutieren oder debattieren, jedenfalls wenn man den Gepflogenheiten der Medien folgt, die voller Polemiken sind.
Die Literaturkritik im eigentlichen Sinn hat sich Ende der 80er Jahre aus dem italienischen Feuilleton verabschiedet. Giovanni Raboni, Luigi Baldacci, Paolo Milano waren die letzten Kritiker von Rang und Namen. „Der Mauerfall und mit ihm das Ende der Ideologien haben in Italien auch im Bereich der Literaturkritik eine wichtige Rolle gespielt“, erklärt Ranieri Polese, ehemaliger Kulturressortchef beim Corriere della Sera. „Die italienische Kritik war stark ideologisiert und stand ausschließlich im politisch linken Spektrum. Eine rechtsorientierte Kritik gab es gar nicht.“
Diese einseitige Orientierung der Kritik bekam seinerzeit sogar ein Werk wie der Gattopardo zu spüren. Als Feltrinelli – wohlgemerkt der Verlag der politischen Linken – den Roman 1958 postum veröffentlichte, wurde er von der Literaturkritik einfach übergangen, denn der Autor, Giuseppe Tomasi di Lampedusa, ein sizilianischer Adliger, passte so gar nicht in das Weltbild der italienischen Kommunisten. Dass der Roman ein Jahr später mit dem Premio Strega ausgezeichnet wurde, änderte nichts an der Einstellung der Kritiker. Erst als der von den Linksintellektuellen verehrte Regisseur Luchino Visconti den Roman verfilmte, wurde der Gattopardo auch in diesem Milieu salonfähig.
Heute kann man von solchen Verkennungen und Irrwegen nur träumen. „Das literarische Prestige hat dramatisch, wenn nicht gänzlich an Wert verloren, für die Zeitungen zumindest ist es nicht mehr ausschlaggebend“, meint der Schriftsteller Antonio Scurati. „Und das nicht, weil es keine Pasolinis oder Calvinos mehr gibt, wie mancher behauptet.“ Nein, die gebe es schon, aber die Verlage, mit den Kulturredaktionen im Bunde, gingen lieber auf Nummer sicher. Waren es einst die stilistische Brillanz und der gesellschaftliche Wert, der den Verleger überzeugten, ein Buch auf den Markt zu bringen, sind es heute die geschätzten Verkaufszahlen.
Das spiegelt sich im vermutlich für deutsche Leser immer noch befremdlichen Umstand, dass keine Zeitung einen festangestellten Kritiker hat. Einerseits kann man es sich nicht leisten, andererseits ist der Kritiker auch nicht mehr so wichtig für das Feuilleton. Denselben Wandel kann man übrigens auch bei der klassischen Musik und beim Film feststellen. Paolo Isottas Artikel über die alljährliche Erstaufführung in der Scala, Tullio Kezichs Beiträge über das Filmfestival in Venedig gehörten einst zur Pflichtlektüre. Heute werden sie durch Interviews, die das breite Publikum angeblich mehr schätzt, ersetzt.
Nichtsdestotrotz hat fast jede große Tageszeitung eine literarische Wochenbeilage: derMailänder Corriere della Sera ebenso wie die Turiner La Stampa und auch Il Sole 24 Ore hat seinen „Domenicale“. Man liest darin über Neuerscheinungen, Theaterinszenierungen, Bildende Künste, Kultur generell. Aber man stößt nur selten auf eine scharfe Kritik. Nicht dass es keine Verrisse gegeben hätte, doch als Genre hat sich la Stroncatura nie großer Beliebtheit erfreut. Eingeführt wurde sie Anfang des 20. Jahrhunderts vom Futuristen Giovanni Papini, der gerade auch in der negativen Kritik ein erhabenes Zeichen der Moderne sah. Mit dem Ableben der Futuristen und der Bewegung nahm der Stellenwert des Verrisses kontinuierlich ab.
„Heute hat man manchmal das Gefühl, dass es die Verlage sind, die bestimmen, worüber geschrieben wird, und wenn eine negative Kritik erscheint, spielen manche total verrückt“, bemerkt Nigro.
All das fördert weder die Literaturkritik noch „das Prestige der zwei wichtigsten Literaturpreise: des Campiello und des Strega“ meint Scurati, der selber mal den Campiello gewonnen hat und 2006 mit seinem Roman Das Kind, das vom Ende der Welt träumte (Rowohlt) in der Shortlist des Premio Strega landete. „Für den Gewinner ist es eine zwiespältige Erfahrung. Einerseits fühlt man sich geehrt, andererseits wird man, wenn auch ungewollt, Teil eines Systems, das sich auf Kungeleien und Abmachungen zwischen den großen Verlagen stützt.“ Und all das fördert schon gar nicht die gute Literatur. Nicht dass es in Italien keine Bücher mehr gäbe. Laut statistischem Amt kommen jährlich 60.000 Neuerscheinungen auf den Markt, und das, obwohl von 100 Befragten nur 14 mindestens ein Buch im Jahr lesen. Man fragt sich also, was mit all den Büchern geschieht, unrezensiert, ungelesen. Für den traditionsreichen Verlag Feltrinelli jedenfalls ist das Buch ein Medium unter anderen geworden, neben Filmen, CDs und alle möglichen Gadgets.
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