„Gerechtigkeit geht auch durch den Magen“

Engagement Carlo Petrini war früher Messdiener. Als Erwachsener gründete er die Slow-Food-Bewegung. Nun schreibt er für den Papst und setzt sich für Geflüchtete ein
Ausgabe 26/2017

Carlo Petrini sagt, er kann sich noch ganz genau daran erinnern, wie bei seinen Großeltern zu Weihnachten und zu Ostern auch immer dieser fremde Mann mit ihnen am Tisch saß. „Als Kind dachte ich, der ist ein komischer Kauz. Aber dass er an diesen Feiertagen bei uns aß, war eine Selbstverständlichkeit.“ Und wenn er so zurückdenke, erzählt der Gründer der Slow-Food-Bewegung, habe ihn diese Einstellung, diese forma mentis gegenüber seinen Mitmenschen, viel mehr gelehrt als jegliche politische Grundsatzerklärung.

Petrini, 68 Jahre, spricht zu den Besuchern des Migranti-Film-Festivals, das vom 10. bis 12. Juni in Pollenzo stattfindet. Wie der Name schon sagt, stehen hier Zuwanderer und Flüchtlinge im Mittelpunkt. Fremde kommen sonst nach Pollenzo, einen Ortsteil von Bra im Piemont, um römische Ausgrabungen zu sehen oder den Landsitz, den sich König Carlo Alberto 1832 errichten ließ, oder weil sie auf der Durchreise von Alba sind, einer Kleinstadt, die ihren Ruhm dem weißen Trüffel verdankt. Die anderen studieren hier. In Pollenzo hat nämlich seit 2004 in einem Teil der ehemaligen königlichen Gemächer die Università degli Studi di Scienze Gastronomiche ihren Sitz. Carlo Petrini ist ihr Gründer. An die 300 Studenten zählt die Hochschule, 60 Prozent kommen aus dem Ausland, erzählt er stolz. Beliebt ist der einjährige Slow-Food-Master, der drei Monate in einer Osteria, vier in einem Ristorante umfasst.

Praxis ist erwünscht: In einem Video rupfen die Studenten Rucola, verarbeiten Bioeier, einer balanciert eine Schüssel mit zwei Gläsern Béchamelsauce, „das wichtigste Geheimnis der raffinierten Küche“. Und die Pfannkuchen, lernt man, wurden im Mittelalter mit Wasser und Wein anstatt mit Milch zubereitet. Der Koch schiebt die Auflaufform mit allen Zutaten in den Ofen, Schnitt, und holt sie wieder heraus. Auf das Gratin, goldgelb gebacken, stürzen acht Gabeln herab.

Carlo Petrini sagt, im Mittelpunkt des Studienangebots stehen aber nicht nur italienische Rezepte für Kochwettbewerbe, sondern die politische Küche: Gastfreundschaft, Geselligkeit, Diplomatie. Die traditionelle Küche eines jeden Ortes sei ja „auch eine Muttersprache, die uns den Bezug zu unseren Wurzeln ermöglicht“, sagt Petrini. Deswegen werden bei dem Festival auch Speisen aus anderen Kontinenten serviert.

Dieser „holistische“ Ansatz – wie Petrini ihn bezeichnet – hat die Studenten auf die Idee des migrantischen Filmfestivals gebracht. Dass sie aber ein so großes Interesse erwecken würden, damit hatte keiner gerechnet: Insgesamt wurden an die 2.500 Kurz- und Langfilme aus 113 Ländern eingereicht. Was wiederum Petrini animierte, persönlich für eine prominente Jury zu sorgen. Zu den Juroren zählten unter anderem die Direktoren der Filmfestivals in Venedig und Berlin, Alberto Barbera und Dieter Kosslick, sowie der Oscar-Preisträger Gabriele Salvatores. Wobei es bei der Auswahl dann nicht nur um Qualität ging, sondern, wie Enrico Magrelli, einer der Juroren, erklärt, zuerst um die Geschichten der Migranten, die erzählt wurden.

Kirche, Küche, Kultur der Nachhaltigkeit

Politische Interventionen waren für Carlo Petrini von Jugend an eine Selbstverständlichkeit. Und so ist es bis heute geblieben. Geändert hat sich dabei nur, wie er dieses Engagement gelebt hat. In jungen Jahren war er Messdiener und später Vor-sitzender der Diözesanjugend in Bra, einer Kleinstadt im norditalienischen Piemont. Hier kam er am 22. Juni 1949 zur Welt. Da es ihm schon immer ums Begreifen und Erkennen ging, studierte er schließlich Soziologie. Und das nicht irgendwo, sondern in Trient, das damals, Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre, eine Hochburg der italienischen Studentenrevolte und der militanten Linken war.

International bekannt wurde Petrini, als er 1986 die Slow-Food-Bewegung gründete, ein Protestakt gegen die Eröffnung eines McDonald’s in Roms Piazza Navona (die mit dem Brunnen von Bernini). Petrini ging es aber nie einzig und alleine um den Genuss, sondern um eine nachhaltige, lokal verankerte Landwirtschaft. 2004 fand unter dem Titel „Terra Madre“ das erste Bauernwelttreffen statt, an dem mittlerweile 150 Länder teilnehmen. Schirmherr war damals Prinz Charles. Im selben Jahr eröffnete in Pollenzo auch die Università degli Studi di Scienze Gastronomiche, wo man „politische Küche“ studieren kann. 2015 bat Papst Franziskus Petrini, ein Vorwort zur italienischen Ausgabe seiner Umwelt-Enzyklika Laudato si zu schreiben. 2016 ernannte ihn die Food and Agriculture Organization zum europäischen Botschafter für das Programm „Zero Hunger“.

Ein Thema ist das der umherirrenden Menschheit und einer dringend nötigen Kultur der Aufnahme, für die sich Petrini seit Jahren einsetzt. „Accoglienza“ lautet hierfür das italienische Wort, in dem auch eine gewisse Wärme und Gemütsregung mitschwingt, was in manch anderer Sprache fehlt. Denn „accoglienza“ setzt auch „compassione“ voraus, womit aber nicht Mitleid gemeint ist, sondern Leidenschaft.

„Aufnahmebereitschaft“ sieht Petrini als anthropologische Konstante an: „Sie galt als Bestandteil der ehemaligen Bauernkultur, aus der wir doch alle stammen, auch wenn das immer mehr in Vergessenheit gerät“, sagt er. „Es war in unserer Gegend allgemein Usus, immer ein, zwei Plätze für unvorhergesehene Gäste bereitzuhalten, ganz gleich, ob Wanderer oder Bettler. Gäste saßen dann an der Seite des Hausherrn und genossen dieselben Rechte wie jedes andere Familienmitglied“, erinnert sich Petrini.

Ende vorigen Jahres trafen sich an der Mailänder Universität Uruguays ehemaliges Staatsoberhaupt José Mujica – der wegen seines bescheidenen Lebensstils auch als ärmster Präsident der Welt bezeichnet wurde –, der chilenische Schriftsteller Luis Sepúlveda und Carlo Petrini. In einem zum Platzen voll besetzten Audimax und vor einer gebannt zuhörenden Studentenschaft debattierten sie zwei Stunden lang über das Thema Glück. Später entstand daraus ein Buch, dessen Titel Vivere per qualcosa auch eine Frage an Petrini nahelegt, nämlich die, wofür es sich eigentlich zu leben lohnt. Und was einen glücklich macht. Genau genommen müsse man sich in seinem Alter eine andere Frage stellen, antwortet Petrini: die nämlich, ob sich der ganze Aufwand gelohnt habe.

„Aber lassen wir das. Ich will mit den Worten von Mujica und Zygmunt Bauman, den ich noch kurz vor seinem Tod getroffen habe, antworten. Bei allen Herausforderungen, vor die das Leben einen stellt, ist es wichtig, das Gefühl zu haben, Probleme lösen zu können und zwar gemeinsam mit anderen. Das macht mich glücklich. So, wie es mich glücklich macht, zu sehen, wie sich diese jungen Menschen hier, und zwar alle zusammen, dem Flüchtlingsproblem stellen und versuchen, ihren Beitrag zu leisten. Es beweist mir, dass es sich sehr wohl gelohnt hat, sich einzubringen, zu kämpfen.“ Man hört ihn sprechen und erinnert sich an einen Titel Pablo Nerudas: Ich bekenne, ich habe gelebt.

Das Time Magazine kürte Petrini 2004 zum „European Hero“, wobei ihm allerdings jegliche heldenhafte Allüre fremd ist. Seine ganze Person hat etwas bezwingend Einfaches, Bodenständiges. Man braucht nur zu beobachten, wie sich dieser eher schmächtige Herr unter die Besucher mischt, sich lebhaft und interessiert mit ihnen unterhält. Wie herzlich der Umgang mit den Studenten ist. Und gerade deswegen ist es kaum zu überhören, wie wichtig ihm gewisse Themen sind, zum Beispiel das der Flüchtlinge, wie dringend sein Aufruf an alle: „Man kann doch nicht nur den Gemeinden die ganze Aufgabe überlassen. Die Zivilgesellschaft ist hier gefragt, muss mit anpacken.“

Ein Baum mit starken Ästen

Wie das gehen könnte, dafür hat er auch schon eine Idee. Zusammen mit der lokalen Caritas und einigen NGOs arbeitet er an einem Projekt, um 100 Flüchtlinge in seiner Geburtsstadt Bra, die 30.000 Einwohner zählt, aufzunehmen. In den 1960er Jahren sei eine große Zahl von Süditalienern aus der kalabrischen Gemeinde San Sosti hierher gezogen. Damals habe man den Satz „Keine Wohnung an Süditaliener zu vermieten“ auf Schildern lesen können. „Ich möchte jetzt nicht lesen: ‚Keine Wohnung an Migranten zu vermieten‘“, sagt Petrini. Man werde es doch wohl schaffen, gerade mal 100 von ihnen menschenwürdig, also nicht in einem Aufnahmelager zusammengepfercht, unterzubringen. Jeder Flüchtling soll einen Studenten an seiner Seite haben, der ihm nicht nur die Sprache beibringt, sondern auch hilft, sich zu integrieren: „Oft sind sie ja Altersgenossen und manche stammen sogar vom selben Kontinent.“

Der einst aus Protest gepflanzte Samen der Slow-Food-Bewegung ist mittlerweile zu einem Baum herangewachsen, einem riesigen, irrwitzig verzweigten, wie ein Baobab. Jeder dieser starken Äste trägt eine andere Frucht, steht für eine neue, von Petrini angestoßene Intervention. „Terra Madre“ etwa, ein Netz von Landwirten, die sich zusammengetan haben, um lokale Landwirtschaft und nachhaltige Produktionsmethoden zu fördern. Mittlerweile hat „Mutter Erde“ ihre Samen über 150 Ländern verstreut. Oder die 2014 gestartete Initiative „10.000 Orti per il futuro dell’Africa“ (10.000 Gemüsegärten für Afrikas Zukunft), über die Petrini sagt: „Afrikas Boden gehört den Afrikanern. Es muss endlich Schluss sein mit dem Verkauf an Ausländer. Deswegen sind diese Gemüsegärten auch ein politischer Akt.“ Natürlich weiß er, dass manches nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist. Man braucht nur in den Südsudan, Jemen, nach Somalia und Nigeria zu blicken, wo Hungersnöte wüten. „Man wäre geneigt, zu resignieren. Ich resigniere aber nicht! Mich packt die Wut und ich mache noch hartnäckiger weiter“, sagt Petrini. „Es ist doch verrückt, dass gerade Afrika den Preis für die Umweltschäden bezahlt, die es gar nicht verursacht hat.“

Es geht um die Menschheit, es geht um den Planeten, so steht es in der 2015 von Papst Franziskus veröffentlichten Umwelt-Enzyklika Laudato si. Petrini sieht es genauso. Dass der Heilige Vater sich mit der Bitte, das Vorwort zur italienischen Ausgabe zu schreiben, aber gerade an ihn wenden würde, hätte er niemals gedacht. Petrini ist schon immer im linken politischen Spektrum aktiv gewesen und hat mit der Kirche eigentlich wenig am Hut. „Na ja, so ganz fremd ist mir die Welt der Katholiken doch nicht“, gibt er dennoch zu. „In meiner Kindheit und Jugend war ich in katholischen Verbänden aktiv. Erst später überkamen mich Zweifel. Und mit meinem Umzug nach Trient, wo ich Soziologie studierte, erfolgte die endgültige Abnabelung.“ Das war Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre. Dem Studenten erschien das katholische Milieu als besonders engstirnig und bieder. Natürlich habe es aber auch Ausnahmen gegeben. Etwa Don Milani, der Pfarrer aus Florenz, und seine Scuola di Barbiana. Das war eine für alle offene Schule, also auch für Kinder aus armen Verhältnissen. Milanis Buch Brief an eine Lehrerin feiert dieses Jahr seinen 50. Geburtstag.

Heute verdanke es die katholische Kirche in erster Linie Papst Franzikus, dass sie wieder ins Zentrum der Geschehnisse gerückt sei und zunehmend Gehör finde. Und das nicht nur bei den Katholiken. Laudato si richte sich an die Menschheit, ungeachtet ihres Glaubens, findet Petrini. „Denn es geht nicht mehr um den Klassenkampf, heute geht es um die Zukunft der Menschheit und dieser unserer Erde.“ Er selber sei ein Agnostiker – „also kein Atheist, denn ich bin weder ein Gläubiger noch ein Ungläubiger“. Was ihn an diesem Papst aber immer wieder fasziniere, sei dessen erstaunliche kulturelle Vermittlungsfähigkeit, sein Talent für Diplomatie. „Wobei die Enzyklika auch als politischer Akt zu verstehen ist, denn veröffentlicht wurde sie kurz vor der Ende 2015 in Paris stattgefundenen Klima-Konferenz. Mir tut es nur leid, dass viele den Sänger, aber nicht das Lied kennen. Was umso bedauernswerter ist, denn Laudato si ist zweifelsohne von historischer Tragweite.“

Vertrauen in die Jugend

Wir leben in unruhigen Zeiten: Millionen Menschen sind vor Krieg, Hungersnot und Armut auf der Flucht. Hinzu kommen Terrorismus und Klimawandel. Das alles stellt die Menschheit vor große Herausforderungen, denen sich die politische Klasse entweder nicht gewachsen zeige oder auf die sie realitätsfremd reagiere, meint Petrini. Nichtsdestotrotz blickt er hoffnungsvoll in die Zukunft. Er setzt auf die Jugend und auf künftige Generationen. „Wir stehen vor einem Paradigmenwechsel. Das Prinzip des ‚Homo oeconomicus‘ hat sich erledigt, das Gesellschaftsmodell, das den Fortschritt am Bruttoinlandsprodukt misst, ist überholt.“

Man müsse umschwenken zum Gemeinwohl, wobei Umverteilung und Regenerierung die zwei Stützpfeiler sind. Zurück zu unseren Wurzeln, zur Agrarkultur will Petrini. Zur Kultur der Aufnahme und der Wiederverwertung. Für die Bauern von einst habe zum Beispiel jedes Werkzeug so lange wie möglich funktionieren müssen und sei später wiederverwertet worden. „Damals hieß diese forma mentis gesunder Menschenverstand, heute sprechen wir von Nachhaltigkeit. Wie dem auch sei, wichtig ist, dass die junge Generation sich dessen bewusst ist. Und ich denke, das ist sie auch.“

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