„Das verstehst du nicht!“

Generation 1985 Das Chaos der Nachwende prägte ihre Kindheit. Plötzlich war alles anders, aber niemand konnte ihnen das neue Leben erklären

Es ist Wochen her, dass mein Vater zuletzt mit mir gesprochen hat. Er ist schon lange so etwas wie ein Weiser, der Dinge murmelt, kaum in ganze Sätze verpackt, die man nicht versteht, die klingen wie Wahrheiten. So etwas wie: „Wirst schon sehen!“ oder „die Vögel fliegen tief“.

Jetzt sitzt er auf dem Sofa, verlässt das Sofa nie, sitzt tagsüber auf dem Sofa, isst auf dem Sofa, schläft manchmal auf dem Sofa, während der Fernseher bis spät in der Nacht läuft. Das Licht einer Rotlichtlampe scheint auf sein rechtes Ohr, er hat eine Hirnhautentzündung oder noch Mumps, ich weiß nicht mehr genau. Während er seine Tage auf dem Sofa verbringt, schwimmen hinter ihm kleine Fischchen in einem kleinen Aquarium, und wenn ich die Fische füttere, rieselt das Futter langsam, wie Staub, auf den Kopf meines Vaters.

Das geht so, seitdem ich mit meiner Mutter und meinem Bruder vor dem Fernseher saß und zugeguckt habe, wie dort im Fernsehen Menschen in Trabis und wirren Frisuren über die Grenze gefahren sind.

Meine Eltern gingen in ein Institut und gossen dort Pflanzen, befühlten ihre Blätter im Gewächshaus, notierten sich auf ihren Feldern etwas in ein Formular. Ich saß oft auf dem Acker und atmete den Geruch der kühlen Erde ein. Im Sommer, wenn das Korn schon gelb und trocken geworden war, rannten meine Schwester und ich in die Felder und versteckten uns zwischen den Halmen. Bis meine Mutter mit dem Mähdrescher kam. Meine Mutter fuhr diesen Mähdrescher und ihr von der Sonne braungebranntes Gesicht strahlte dabei. Sie war sehr gründlich, sehr konzentriert, und man konnte durch die Sonnenbrille nicht immer erkennen, ob sie uns sehen konnte, aber dann pfiff sie nach uns, und wir rannten zu ihr, und dann brüllte sie etwas vom Mähdrescher herunter, weil sie fast taub vom Lärm war, und wischte sich mit einem zerrissenen Lappen den Schweiß aus dem Gesicht und lachte. Sie sah aus wie ein Filmstar. Ein Filmstar, der Mähdrescher fährt. Vielleicht wäre das ein guter Moment gewesen, alles anzuhalten.

Wir fahren im Trabi raus aus dem Viertel, eine Landstraße entlang, in die Stadt hinein. Ich habe das Gefühl, mich gut zu verstehen mit meinem Vater, auch wenn wir nichts reden. „Wohin fahren wir?“ „Zur Wahlversammlung des demokratischen Frauenbunds.“ Ich war verwirrt. Demokratisch?

Als wir in das Rathaus reingehen, wird es sofort dunkel und stickig, und von Weitem hören wir aus dem Saal, den ich vom Fasching kenne, schon viele Frauenstimmen und Gläser klirren, und mein Vater zittert und schwitzt, dann kommt eine Frau raus und erschreckt sich, dass da zwei stehen vor der Tür, und sagt: „Ach schön, dass doch noch ein Genosse kommt. Immer rein in die gute Stube.“ Als sich die Saaltür öffnet, wird es wegen der großen Fenster im Saal gleich so hell, dass wir die Augen zusammenkneifen, und die Frau sagt zu meinem Vater, dass es schön wäre, wenn er ein paar Worte an die Frauen richten würde, der eigentliche Redner sei nicht gekommen, überhaupt sei kein Mann und schon gar kein Genosse gekommen, und jetzt säße man hier etwas ratlos herum. „Das verstehe ich nicht, also wirklich, das ist hier eine Wahlversammlung des Demokratischen Frauenbunds Deutschlands und da ist kein Genosse, also da sind die Sitten aber wohl gleich eingebrochen“, sagt sie und stützt verärgert die Hände in die Hüften. „Wie, kein Vertreter der Bezirksleitung?“, fragt mein Vater. „Keiner“, sagt die Frau. „Da müssen Sie jetzt reden.“

Mein Vater entsetzt: „Also, das macht doch jetzt keinen Sinn, wenn ich da etwas sage, wo doch niemand da ist.“

„Wir sind da. Also wirklich! Das ist ja, als würden Sie sagen: Die Frauen des Demokratischen Frauenbunds Deutschland sind niemand.“

„Ich meine, nein, natürlich nicht. Aber ...“

Seine Augen werden ganz groß und gucken abwechselnd sie und dann die Frauen im Saal an, weil die Frau die große Flügeltür festhält, und dann merke ich, wie er eine Bewegung macht, die wie Rückzug aussieht. Aber im Saal haben sie uns sowieso schon gesehen und bitten uns jetzt unter lauten Anfeuerungen hinein. Mein Vater beugt sich zu mir runter, und das Letzte, was er zu mir sagt, ist, dass ich mich absolut unauffällig verhalten solle, mucksmäuschenstill soll ich sein, nicht stören und nichts anfassen.

An vier Tischen sitzen bestimmt jeweils fünfzehn oder zwanzig Frauen. Ich setze mich an einen Tisch ganz vorn vor die Bühne, neben die Frau von der Tankstelle, und meine Hausärztin schaut mich von der anderen Seite genauso streng an, wie sie es tut, wenn sie mir die Lunge abhört. Eine Frau stellt mir aber gleich ein Stück Kuchen hin. Der Kuchen ist schön, und die Frau ist auch schön, so was habe ich ja noch nie gesehen: Einen bunten Kuchen und eine Frau mit langen blonden Haaren. Ihr Arm ist bedeckt mit einem ganz hellen Flaum von Haaren, und ich wünsche mir, auch ganz viele Haare auf dem Arm zu bekommen, und beschließe, in den Demokratischen Frauenbund einzutreten und Kommunistin zu werden.

In der Zwischenzeit ist mein Vater offenbar auf der Bühne angekommen. „Nun, ähm, die meisten von Ihnen kennen mich sicher. Heute spreche ich in ehrenamtlicher Funktion eines stellvertretenden Parteisekretärs der SED dieser Stadt zu Ihnen. Ich bin dann wohl der Einzige von den Eingeladenen, der gekommen ist. Alle anderen Vertreter von Parteiebenen der SED, Blockparteien bzw. Massenorganisationen sind, wie es aussieht, nicht anwesend.“ Auf dem Tisch stehen auch eine Torte mit Tortenheber und ein Blumengesteck, das aber nicht echt ist, sondern aus Plastik, das teste ich immer, wenn ich Pflanzen irgendwo in Töpfen sehe, weil man ja manchmal auch denkt, dass die unecht sind, und dann knickt man sie um, und sie waren doch echte Pflanzen. Und dann hat man jemanden umgebracht. Und das gehört sich nicht.

„Denen ganz oben sollte man mal kräftig auf die Finger klopfen“, sagt die Frau von der Tankstelle.

Mein Vater stockt. Ein strenger Blick. Ich höre auf zu kauen. Dann spricht er mit dem Kronleuchter.

„Und so wurde ich in Ermangelung anderer gebeten, ein paar Worte an Sie zu richten. Doch was soll ich Ihnen sagen?“ Ich suche einen Löffel, um den Kuchen zu essen, weil man Kuchen nicht so einfach mit den Fingern essen darf. Jedenfalls, wenn Fremde zuschauen.

„Lange Rede, kurzer Sinn: Möglicherweise werden alle miteinander in naher Zukunft mit Dingen konfrontiert werden, die heute noch keiner glauben kann. Wichtig ist allerdings, dass man fair miteinander umgeht. Gibt es Fragen?“

Keiner sagt etwas.

„Demokratie ist ein offener Diskurs. Ich möchte Sie ermuntern, nun zu reden.“

Stille.

„Na, dann wünsche ich Ihnen einen schönen Abend.“

Mein Vater verlässt die Bühne und geht steif zur großen Eingangstür mit den bunten Gläsern. Dann stehe ich auf und renne hinterher. Draußen sehe ich ihn den Trabi aufschließen und renne zu ihm. „Da bist du ja. Wo warst du?“, sagt er.

Er setzt sich auf die Fahrerseite. Ist Demokratie jetzt gut oder schlecht?, will ich fragen. Es scheint mir ein sehr dehnbarer Begriff zu sein. Demokratie. Wenn alles Demokratie schon im Titel hat, aber jetzt erst die richtige Demokratie kommt, warum nannte man sich vorher schon Demokratische Republik und Demokratischer Frauenbund? Das ist doch albern, dachte ich, das ist doch Gehirnwäsche zu behaupten, man sei in einer Demokratie, wenn die Demokratie erst jetzt kommt. Das ist, als wolle man sagen: 3+3 ist 7. Das ist die Logik meines Bruders, der ist drei und kann nicht rechnen.

Mein Vater nimmt den kleinen Anstecker von seinem Jacket ab, ich habe beides, also Anstecker und Jacket, vorher nie an ihm gesehen.

Ich frage: „Was ist das?“

Er: „An und für sich geht es hier konkret um Dinge, die du nicht verstehst.“

Nie solle ich vergessen, woher ich komme.

Er tippt entschlossen auf das Kunstlederarmaturenbrett.

Das ist, denke ich, schwer zu sagen, woher man kommt.

Version I: Eltern Akademiker (haben vor allem Mähdrescher gefahren und Erde umgewälzt), im Bücherregal: Karl May, Karl Marx, Karl Valentin.

Version II: Alle scheinbar unzufrieden (Grund unbekannt). Schwierig. Platte. Rundherum viele kaputte Autos. Früh mit Alkohol konfrontiert.

Im Niemandsland

1989 gingen sie noch in den Kindergarten. Die DDR kennt die erste Nachwende-Generation nur noch aus den Erzählungen der Eltern. Sie wachsen in den neunziger Jahren auf, in denen die alten Werte nicht mehr gelten und neue noch nicht gefunden sind. Zwischen Aufbruch und Depression. Ein Vakuum.

Andrea Hanna Hünniger ist Autorin und Journalistin. Sie wurde 1984 in Weimar geboren und lebt heute in Berlin. Im August 2011 erscheint ihr Erzähldebüt Das Paradies. Meine Jugend nach der Mauer im Verlag Klett-Cotta

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