An jenen Tag, als Sores in ihr Zimmer kam und dort stand mit seinen krausen Haaren und der Jeans, die ihm tief hing, wird sie sich immer erinnern. „Der ist doch nicht von hier“, hat sie gedacht. Und dann noch: „Warum hat der denn im Haus eine Mütze auf?“ Sie lacht über diese Erinnerung und die hellen Augen, leicht grünlich, glitzern. Die Mütze, sagt sie dann, die Mütze war das Seltsamste. Überhaupt fand sie Sores von Anfang an lustig, er hatte so etwas Unbekümmertes. Wenn sie mit ihm zusammensaß, beim Tee oder manchmal beim Essen in der Kantine, dann schien er für Augenblicke wie ein Spiegel, in dem sie flüchtig ihr eigenes junges Selbst sehen konnte.
Sores studierte an der Universität in Deventer im zweiten Semester Kommunikationswissenschaft und brauchte eine Wohnung, die er bezahlen konnte. Er hörte, dass er in dem Haus, in dem sie und die anderen lebten, umsonst wohnen könnte, wäre er bereit, sich zu kümmern und ein hilfsbereiter Nachbar zu sein. Sores hat Eltern, die vor vielen Jahren aus Kurdistan geflohen sind, erst nach Deutschland, dann in die Niederlande, wo er aufgewachsen ist. Seine Großeltern blieben zurück, er kannte sie nur flüchtig. Er hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, wie es sein könnte, nicht mehr leicht zu sein. Sondern alt und gebrechlich.
Sie ist fast 93 Jahre alt und heißt Marty. Im Jahr ihrer Geburt wurde Hindenburg Reichspräsident und Werner Heisenberg veröffentlichte seine Quantentheorie. In das Haus zog sie noch mit ihrem Ehemann, es war der dritte. Vom ersten ließ sie sich scheiden, der war nicht gut zu ihr, der zweite und der dritte starben, so blieb sie allein in der Einzimmerwohnung zurück.
Sores ist 28 Jahre alt. Im Jahr seiner Geburt begann 1989 die zweite Amtszeit Richard von Weizsäckers als Bundespräsident. Das Raumschiff Voyager 2 zog am Neptun vorbei und lieferte erstmals Bilder des Planeten.
Verblüffend: Glück ist das Ziel
Marty und Sores wohnen im Seniorenheim Humanitas in der niederländischen Stadt Deventer und sind Protagonisten eines ungewöhnlichen Experiments. 150 alte Bewohner hat das Heim, die meisten von ihnen über 80 Jahre, einige gehen an die Hundert. Sie haben schütteres Haar und sind gebrechlich, sie schieben langsam und zögerlich ihre Körper mit Unterstützung ihrer Rollwagen durch die Flure. Sechs Studenten nahm das Heim als Mitbewohner auf – mietfrei – und dazu noch einige weitere junge Menschen, die eine leichte Behinderung haben und in kein Behindertenheim gehören, aber auch nicht allein leben können. Sie erhalten Hilfe im Alltag. Dafür helfen sie den Senioren. Die Studenten kommen oft erst mitten in der Nacht nach Hause, sie laden Freunde in ihre kleine Wohnung ein, sie haben ein Liebesleben, und wenn sie Spaß haben, sind sie auch manchmal laut.
Marty und Sores, ihre Freundschaft geht jetzt schon ein Jahr. Er hatte einen Aushang gemacht, gefragt, wer sich dafür interessiert, einen Kurs über den Umgang mit einem Notebook, über das Internet zu machen. Marty hatte sich gemeldet, und so ging er erstmals zu ihr in das winzige Appartement mit den vielen Puppen, dem Puppenwagen, dem kleinen künstlichen Baum, in dem Plastikvögel sitzen, und den Bildern von zwei verstorbenen Ehemännern über dem Bett. Sie hatte ihn mit ihren hellen Augen gemustert, über seine Mütze gelacht und ihn gefragt, aus welchem Land er komme. „Ich“, hat er gesagt, „bin Niederländer wie du.“
Die Idee zu diesem Experiment hatte Heimleiterin Gea Sijpkes, eine energische, hochgewachsene Mittfünfzigerin, für die das Heim mehr als nur ein Arbeitsplatz ist. Als sie vor vier Jahren die Leitung übernahm, hatte sie ein Ziel: Die Heimbewohner sollten glücklich sein. Und das, so dachte sie, ließe sich nicht mit Wohlfühlangeboten erreichen, sondern eher mit Lebendigkeit und mit genügend Raum für das subjektive Glücksgefühl der einzelnen Bewohner. Von jedem ließ sie ein Profil erstellen mit drei Fragen: Wer warst du? Wer bist du? Was möchtest du für deine Zukunft? Auch Familienmitglieder wurden in die Befragung eingebunden. Die Ergebnisse seien verblüffend gewesen, so Sijpkes. „In den meisten Heimen herrscht die Auffassung, dass alte Leute in einem Status-quo-Zustand leben. Wir haben festgestellt, das ist nicht so. Sie wachsen noch immer, sie verändern sich, sie verändern auch ihre Wünsche und Gedanken. Daraus haben wir gefolgert, dass alles in diesem Haus in Bewegung bleiben sollte.“
Der erste Gedanke beim Eintritt in das rechtwinklige Gebäude von Humanitas mitten in der Stadt: Das sieht hier aus wie in einem Hotel. Lindgrüner Teppich, Sessel sind in einer Lounge um Tische gruppiert. Hinter der Rezeption hängt ein XXL-Poster der Altstadt von Deventer. Es riecht nach Kaffee, nicht nur am Empfang, sondern auf jedem Stockwerk. Überall stehen Kaffeeautomaten. Und überall strömt Licht durch große Fenster, gibt es Rückzugsräume, Räume für Zusammenkünfte. Jedes Stockwerk hat ein anderes Design, von den Bewohnern selber entschieden. Eines sieht nach Strand aus, auf einer Etage gibt es eine Bar – ohne Alkohol und mit amerikanischem Mobiliar der 1960er Jahre. Dort sitzen die Bewohner zusammen, es wird gelacht, Karten gespielt, es werden gemeinsam Kreuzworträtsel gelöst. So, denkt man überrascht, kann es also auch sein. So hell. So leichtfüßig-elegant dem Leben zu- und dem Tode abgewandt.
Dabei ist Humanitas kein Heim für privilegierte Niederländer. Reich muss man nicht sein, um dort unterzukommen, nur ein Gebrechen muss man haben, das einen unfähig macht, sich allein zu versorgen. Die Kosten trägt die Krankenkasse. Möglich ist das Projekt auch deshalb, weil viele Pfleger ehrenamtlich tätig sind.
Sores machte sich vor dem Einzug nicht allzu viele Gedanken, wie es ist, unter alten Menschen zu leben. Er hatte wohl damit gerechnet, dass es nicht immer einfach sein würde. „Man muss sich erst gewöhnen. Wenn ich reinkomme, dann ist es, als ziehe jemand die Bremse. Alles ist entschleunigt.“ Womit er nicht rechnete: Er hörte schnell auf, in ihnen die Alten zu sehen. Je besser er jemanden kennenlernte, desto mehr sah er den Menschen, nicht die Jahre. Und er lernte von ihnen. „Draußen ist alles immer eilig. Die Leute hier drin haben Muße, einem zuzuhören. Sie sehen alles gelassen, wenn man Probleme hat, dann wiegen sie diese gegen ein ganzes Leben auf. Das tut gut, auch meine Freunde sagen, ich hätte mich verändert.“
Erste Nähe dank iPad
Die erste Nähe zwischen Marty und Sores brachte ausgerechnet das Internet. Nachdem er der alten Dame beigebracht hatte, wie sie mit ihrem neuen iPad umgeht, begann diese nicht nur E-Mails zu schreiben, sondern las sich im Internet durch die Geschichte der Kurden. Wenn Sores zu ihr zum Tee kam, stellte sie Fragen. Über das Leben seiner Eltern. Über den Widerstand in Südostanatolien. Sie begann, ihm von ihren Erlebnissen im Krieg zu erzählen. „Das fand ich krass. Der Zweite Weltkrieg, das ist für mich etwas, was in den Geschichtsbüchern steht. Ewig vergangen. Aber Marty hat alles noch erlebt.“
Er erzählte ihr, wie man heute Beziehungen so lebt. Zeigte ihr seine Tattoos und erklärte, was Hip-Hop ist. Das Lebensgefühl dahinter. In der Enge ihres Zimmers tanzte er ihr ein paar Bewegungen vor, sie klatschte in die Hände und sagte, ja, das würde sie gern auch noch können. Irgendwann sagt Marty dann zu ihm: „Du bist mir wie ein Sohn. In meinem Herzen habe ich dich adoptiert.“
„Genau darum geht es, um Menschlichkeit“, sagt Gea Sijpkes. Die Heimleiterin hat nicht viel Zeit in diesen Tagen, es gibt Anfragen von Medien, Psychologen, Sozialarbeiterverbänden und anderen Heimen nach einem Termin. „Anfangs waren so viele Leute skeptisch, auch mein Vorstand. Sie dachten, jetzt kapern die Jungen das Heim mit Sex and Drugs and Rock ’n’ Roll – und dazwischen verletzliche alte Leute. Jetzt wollen viele unsere Idee kopieren.“ Allerdings – und das ärgert sie – würde diese als Win-win-Situation missverstanden, als sei das Leben ein Nullsummenspiel. „Die einen lassen die Studenten Miete zahlen, die anderen wollen, dass sie einen Arbeitsplan erfüllen. Wir aber geben nicht vor, wie lange die Studenten mit den Bewohnern reden oder in welcher Form sie ihnen helfen. Wir wollen, dass sie sich miteinander wohlfühlen und sich guttun.“
Die einzige Verpflichtung der Studenten sei es, einmal in der Woche den Senioren ein Abendbrot zuzubereiten und ihnen Tee auf die Zimmer zu bringen. Dienst an einem dieser Abende haben Patrick und Sharmain, er 29 Jahre alt, sie 25. Patricks Freund unter den Alten ist Harry, 90 Jahre, der einst einen Friseursalon besaß und zum Abendessen gern im Dreiteiler erscheint. Auch heute. Allerdings sitzt der Schlips schief, Patrick rückt ihn zurecht, die beiden reden ein paar Sätze, Köpfe zusammengesteckt, vertraut und sehr nahe.
Joko, die ebenfalls über 90 Jahre ist, sich noch sorgfältig schminkt, ihre Nägel lackiert und riesige Seidentücher trägt, kommt herein. Patrick rückt ihr den Stuhl zurecht. Joko, ist dir heute kalt? Ich weiß nicht, ich fühle mich nicht so. Ich hole dir erst mal Tee, sagt Patrick und streicht ihr über die Schulter, sie nimmt seine Hand und strahlt ihn an wie ein junges Mädchen. Sharmain hat sich mit Annie angefreundet, die gern im Internet surft und eine Facebook-Seite hat. Auch Annie ist schon 90. Von ihr muss sich Sharmain anhören, dass sie oft in ausgeleierten Jogginghosen rumlaufe und erst morgens von Partys nach Hause komme. Und immer mal wieder einen anderen Mann im Schlepp habe. „Wir hatten früher nur einen Mann“, sagt Annie. „Selber schuld“, erwidert Sharmain.
Vor ein paar Monaten hat Philipp sich eine Crop Box gekauft, das ist ein Container, in dem man mithilfe eines gesteuerten Licht- und Bewässerungssystems urbane Landwirtschaft betreiben kann. Philipp baut dort verschiedene Salatsorten an. Für die Küche des Heims, aber auch zum freien Verkauf. Das Heim erlaubte ihm, den Container in den Hof zu stellen. Um die Crop Box zu finanzieren, musste er einen Investor finden und einen Geschäftsplan haben. Harry hat ihm dabei geholfen. „Ohne ihn hätte ich das nur schwer hinbekommen.“ Harry hat sich gefreut, wieder gebraucht zu werden. Und Philipp fühlte sich gestützt.
Wieder ausziehen? Nein, sagen Sharmain, Philipp und Sores. Nicht, solange sie nicht müssen. Unterhalter, Gesellschafter, Helfer – all das seien sie in den vergangenen zwölf Monaten gewesen. Sie hätten mehr Tee getrunken als je zuvor im Leben, dazu endlose Kriegsgeschichten gehört, andererseits Geborgenheit und Zuneigung erfahren, auch Trost. „Ich gehe nicht zu Marty, weil ich es muss, sondern weil ich es möchte“, sagt Sores. „Ich habe immer ein gutes Gefühl, wenn ich nach Hause komme“, sagt Philipp. „Es ist wunderbar, hier zu leben“, ergänzt Sharmain.
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