Der Dedebaba betritt den Raum zur verabredeten Zeit und bedauert, noch ein paar Telefonate erledigen zu müssen. Bald aber sei er zurück. Als er wiederkommt, trägt er eine Schale mit Äpfeln, die aus seinem Garten stammen. Bitte, man möge davon essen. Dann setzt er sich aufrecht hin, zieht den langen weißen Rock gerade, richtet das grüne Umschlagtuch um seinen Oberkörper und rückt seinen weißen Hut mit dem grünen Band etwas zurecht. „Noch Tee?“, fragt er freundlich, und gleich ist man eingehüllt in die sanfte Höflichkeit, die dieser Mann verbreitet.
Dedebaba ist ein Titel (wörtlich übersetzt: Großvater), der ihn trägt, heißt Edmond Brahimaj, ist 59 Jahre alt und seit 2011 Oberhaupt der Weltgemeinschaft der Bektaschi, einer der mystischen islamischen Sufi-Orden, der in diesem Fall seinen Sitz an der Peripherie von Tirana hat. Die Geschichte des Bektaschi-Ordens ist eine der Verfolgungen, Enteignungen und Beinahe-Auslöschungen. Dass er sich nach 1990, nach dem Ende des Kommunismus in Albanien, wieder formieren konnte, grenzt an ein Wunder nach den Jahrzehnten des Diktators Enver Hoxha. „Es war eine Zeit des großen Leidens. Wer konnte, entfloh – wer nicht konnte, betete. Und hielt weiter an seinem Glauben fest. Als wir 1991 ein Komitee zur Wiederbelebung der Bektaschi in Albanien begründeten, waren wir erstaunt, wie viele Menschen uns unterstützen wollten“, erzählt Brahimaj.
Der Sufismus strebt nach Vereinigung mit Gott und steht für einen Islam, der die Liebe predigt und jede Form von Hass oder Gewalt ablehnt. Tue Gutes und meide Böses, lässt er sich in einem Satz zusammenfassen. Gut ist alles, was nach Liebe zu Gott strebt, böse, was dieser Liebe im Weg ist – vor allem das eigene Selbst. Nichts hindert einen Sufi so sehr an der Suche nach Wahrheit wie das eigene Ego.
Der Apfel, das Jetzt
Die Liebe der Sufis macht vor keiner sozialen oder religiösen Grenze halt. In die Tekke – so nennt man die Ordensorte der Sufis – in Tirana kann kommen, beten und Lehrgespräche anhören, wer will. Egal, welcher Konfession jemand angehört. „Sollte jemand länger als drei Tage bleiben, muss bei der täglichen Arbeit geholfen werden“, sagt Brahimaj und schneidet die Äpfel so konzentriert in Scheiben, als sei dies in dem Moment das Wichtigste auf der Welt. Überhaupt verbreitet dieser Geistliche eine Atmosphäre von Gegenwärtigkeit. Seine Antworten erfolgen nie eilig und auch, als einige Mitarbeiter ihm bedeuten, dass Telefonate auf ihn warten, lässt er sich nicht aus der Ruhe bringen. Kann ausgerechnet ein mystischer Islam eine Gesellschaft verändern? „Wir hatten schon immer einen großen Einfluss, und wir haben ihn heute noch“, ist er überzeugt. „Offiziell gehören nur zwei Prozent der Bevölkerung zu uns, doch offenbaren Umfragen in Dörfern, dass sich dort jeder Dritte zum Sufismus bekennt.“
Die beiden letzten Sätze lassen sich nicht nachprüfen, der erste ist belegt. Vor der Zeit des Kommunismus gab es in Albanien gut 1.300 Imame, zwei Drittel der Bevölkerung bekannten sich zum Islam, davon ein Fünftel zur Bektaschi. Deren Kleriker übernahmen eine Vorreiterrolle, als sich ab 1912 die albanische Nationalbewegung gegen die osmanische Besatzung formierte, ihre Tekken waren Bildungszentren, zugleich kümmerten sie sich um Arme und sozial Benachteiligte. Das, sowie ihre entspannte Haltung zu Glaubensfragen, brachte ihnen große Beliebtheit bei der Bevölkerung ein.
Ein breiter Pfad
Die Bektaschi entwickelte sich – wie andere Sufi-Orden auch – im Mittelalter in Anatolien. Ihr Begründer soll Hadschi Bektasch gewesen sein, ein Mystiker und Asket, der Armut und Bescheidenheit predigte. Schon damals waren Frauen gleichberechtigt zu den Ritualen, zu Gebet und Derwischtanz zugelassen. Und das blieb bis heute so. Später nahm die Bektaschiyya viele schiitische Eigenschaften an, adaptierte hinduistische, buddhistische und philosophische Elemente der griechischen Antike wie christliche Einflüsse. Neben Mohammed und seinen Nachfolgern verehren die Bektaschi Jesus, die Apostel und Maria. Ihre freigeistige Auslegung des Korans und religiöse Toleranz hat ihnen über die Jahrhunderte viel Feindschaft unter den islamischen Brüdern gebracht. Noch immer werden die mystischen Sufi-Orden in der arabischen Welt verfolgt und ihre Anhänger ermordet.
Im Osmanischen Reich zählten die Bektaschi zu den geistlichen Beratern. Sie verbreiteten sich schon damals auch auf dem Balkan und verlegten 1925 – nachdem sie wegen Häresie von Kemal Atatürk verboten wurden – den Hauptsitz nach Tirana. Ihre Botschaft fand schnell Anhänger. Sami bey Frasheri, albanischer Schriftsteller, schrieb schon 1896: „Der Glaube der Bektaschi ist ein breiter Pfad, dem als Licht voran leuchten: Weisheit, Brüderlichkeit, Freundschaft, Liebe, Menschlichkeit und Güte. An der einen Seite hat er die Blume des Wissens, an der anderen die der Wahrheit.“
Doch weder Wissen noch Wahrheit bewahrten die Bektaschi vor dem Beinahe-Untergang. Ihre Tekken wie alle sakralen Gebäude fielen nach der Machtergreifung von Hoxha im Jahr 1944 unter die Kontrolle des Staates. 1976 wurde Albanien zum ersten atheistischen Staat erklärt. Danach verfielen Kirchen und Moscheen, Religion existierte nicht mehr, jedenfalls nicht sichtbar. Heute sind schätzungsweise 60 Prozent der Albaner wieder Muslime, und das – so der Dedebaba – sei nicht nur eine gute Nachricht. „Auch in Albanien haben wir Bewegungen, die den Islam missverstehen, die Hass und Gewalt predigen und nicht der Botschaft der Liebe folgen.“ Ein Trend, bei dem die Bektaschi ein Gegengewicht sein wollten, sagt deren Oberhaupt. Nichts sei so unislamisch wie Radikalismus. Solche Sätze gibt es nicht ohne Grund. Einige Kilometer entfernt von der Tekke der Bektaschi wird gerade letzte Hand an die größte Moschee des Balkans, die Erdoğan-Moschee, gelegt. Ihre vier Minarette werden künftig das Bild Tiranas mit bestimmen. Einmal fertig, werden in dem mit türkischem Geld erbauten Gotteshaus 4.000 Menschen Platz finden.
Lange wurde Albanien als Beispiel für Laizismus und die friedliche Koexistenz von Muslimen und Christen gelobt. Doch diese Zeiten sind vorbei, weil sich die Regierung nach dem Ende der Diktatur kaum um religiöse Belange gekümmert hat, keine Kontrolle über die Gotteshäuser und ihre Prediger ausübte. Es entstand ein Machtvakuum, das heute die Türkei, Katar und Saudi-Arabien zu füllen suchen. Mit ihrem Geld für neue Moscheen kamen fanatische Prediger ins Land und rekrutierten junge Männer – von 145 Kämpfern ist die Rede – für den Islamischen Staat (IS). Der albanische Politikwissenschaftler Enri Hide hat den Eindruck, dass Albaniens islamistische Szene gerade an Zulauf gewinnt. Auch die Regierung verfolgt das inzwischen mit Sorge. Premierminister Edi Rama von der Sozialistischen Partei (PS) hat einen Anti-Terror-Beauftragten ernannt.
Gegen die Monumentalität der Erdoğan-Moschee ist die Tekke der Bektaschi ein bescheidener Bau, dafür aber nur mit eigenem Geld und Spenden der Bektaschi-Diaspora in Detroit erbaut. Außen ist das Gebäude mit Marmor verkleidet, zwölf Säulen für die zwölf Imame der Shia bilden eine Außenseite des Bauwerks. Im oberen Stockwerk ist die Moschee ein Kuppelbau mit wunderbaren grün-blauen Deckenfresken. Besichtigen kann ihn, wer will. Ein Rundgang steht jedem frei, der dazu aufbrechen möchte. Auch zu Gebeten sind Besucher zugelassen. Im unteren Stock gibt es ein Museum, in dem die Geschichte der Bektaschi im Allgemeinen und in Albanien im Besonderen gezeigt wird, dort hängen Fotos ehemaliger Dedebaba, es werden antike Kleidungsstücke ausgestellt und der Tanz der Derwische erklärt. Im Empfangsraum, dort, wo der Dedebaba seine Besucher empfängt, hängt an einer Wand ein Porträt von ihm selbst mit den albanischen Bergen im Hintergrund, an der gegenüberliegenden ein Bild, das zeigt, wie der Dedebaba Papst Franziskus die Hand schüttelt, als der 2014 Albanien besucht hat. Beide wirken darauf, als ob sie sich sympathisch wären. „Aber ja“, sagt Brahimaj, „wir mögen uns, denn wir haben denselben Wunsch: dem einen Gott und allen Menschen zu dienen.“
Es dauerte viele Jahre, bis es den Bektaschi gelang, ihre enteigneten Besitztümer wieder zurückzuerhalten, nicht nur die Tekke in Tirana. Zurzeit gibt es acht wieder aufgebaute oder umgebaute Klöster der Bektaschi in Albanien. Zum alljährlichen Pilgerfest auf dem Berg Tomorr, der den Bektaschi als Grabstätte eines mystischen Märtyrers heilig ist, kommen auch Hunderte von Albanern anderer Glaubensrichtungen, um mit den Mystikern Schafe zu schlachten und zu verspeisen, Raki zu trinken und zu tanzen. Denn weder sind den Bektaschi der Konsum von Alkohol noch die Lebensfreude verboten: „Wer Gott liebt, der ist ein fröhlicher Mensch“, meint Brahimaj. „Die einzige Regel, die es zu beachten gilt: Alles in Maßen. Meide die körperlichen und geistigen Extreme.“
Nach etwa einer Stunde Gespräch, Tee und Apfelscheiben bittet Brahimaj höflich, sich wieder seinen Aufgaben widmen zu dürfen. Er bereite eine Konferenz vor, man erwarte Besucher, er werde gebraucht. Ob es noch Fragen gebe. Ja, die eine: Welcher Schritt der erste sei, um sich auf den Weg eines Sufi zu begeben. Da lacht er ein wenig. „Der erste Schritt ist der erste Schritt“, sagt er – und im Fortgehen noch: „Erwerben Sie Wissen, so viel Sie können. Wissen ist der rechte Weg zu Gott.“
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