Es rettet sich, wer tanzt

Burkina Faso Die einst in Paris gefeierte Tänzerin Irène Tassembedo holt junge Prostituierte zum Ballett – und damit von der Straße

Es dampft zwischen Decke und Boden, salziger Geruch von Schweiß zieht durch den Raum, nackte Füße stampfen. Immer schneller wird der Rhythmus, die Tänzerinnen hecheln schon, ihre dünnen Körper schwanken hin und her. Irène Tassembedo aber vibriert vor Temperament. „Schneller! Präziser! Genauer!“, schreit sie durch den Raum. „Was ich hier sehe, ist kein Tanz, das ist nur zweitklassig.“

Eine unscheinbare Sandstraße führt durch die Banlieue von Ouagadougou, der Hauptstadt von Burkina Faso, vorbei an einem ockerfarbenen Gebäude. Irène Tassembedos Studio ist nicht gerade einfach zu finden. „Eine Tanzschule, hier?“, fragen entgeisterte Passanten zurück. Als könne man sich in Ouagadougou gewiss viel vorstellen, aber das nun wirklich nicht.

Die einst an Pariser Theatern gefeierte Tänzerin stellt man sich als zerbrechliche Person vor. Doch die Frau, die in ihrem Tanzsaal steht und mit stampfenden Füßen und rudernden Armen die Mädchen antreibt, ist füllig. Irène Tassembedo kann fluchen wie ein Mann, dazu schimpfen und schreien. „Frauen wie mich kennt dieses Land nicht“, lacht sie so drohend, als sollte das eine Kriegserklärung sein. „Frauen wie mich braucht dieses Land um so dringender.“

Die gescholtenen Mädchen in Tassembedos Tanzgruppe sind überwiegend ehemalige Prostituierte. Zu früh von zu Hause weggelaufen, zu schnell an falsche Männer geraten und zu einer demütigenden Existenz verdammt, die nur allzu oft mit dem Aids-Tod endet. Für diese Mädchen gibt es kaum Hilfe in Burkina Faso, einem der ärmsten Länder Afrikas, dessen Norden häufig von Dürren heimgesucht und das deshalb immer wieder von Hungersnöten geplagt wird. Der Bürgerkrieg im benachbarten Mali hat einige Tausend Flüchtlinge ins Land geschwemmt, von denen viele die Aufnahmelager längst wieder verlassen haben, um in Ouagadougou nach einer neuen Existenz zu suchen.

Jung, aber am Ende

Wer also sollte sich interessieren für früh gescheiterte Mädchen, wenn die Mehrheit der Einwohner von Ouagadougou ums tägliche Überleben und um ein bisschen Glück kämpft? „Niemand – das tut niemand“, sagt Tassembedo zwischen einigen Takten Ballettmusik. „Es gibt nur zwei Chancen, dem Elend auf dem Straßenstrich zu entkommen. Die erste: Du findest einen Mann, der sich deiner erbarmt. Die zweite bin ich. Doch bei mir bekommen die Mädchen nichts umsonst. Was einem umsonst überlassen wird, schätzt man nicht. Ich bin nicht von der Heilsarmee – ich leite eine Tanzschule.“

Anfang 2001 kehrte Irène Tassembedo nach Afrika zurück. Ihrem französischen Ehemann war in Ouagadougou eine Stelle bei einer Hilfsorganisation angeboten worden. Sie nahm es als Wink des Schicksals. „Die Gesellschaft von Burkina Faso durchlebte einen Umbruch“, erzählt sie. „Daran wollte ich beteiligt sein.“ Sie gründete die Tanzschule Edit, erst nur mit eigenem Geld, dann mit den Spenden einiger Sponsoren. Es entstanden Probenräume, eine Theaterbühne und eine Cafeteria. Warum sie überhaupt auf die Idee kam, Straßendirnen in ihre Schule zu holen und mit viel Disziplin und Härte aus ihnen Tänzerinnen zu machen, kann die sonst so wortreiche Choreografin nicht so recht erklären. „Vielleicht, weil ich eine Chance hatte und diese jungen Frauen nicht. Und weil diese Chance mit Glück zu tun hat und nicht sehr viel mit Verdienst.“ Vor drei Jahren begann Tassembedo, durch die Bars von Ouagadougou zu streifen und „Ladies of the night“ anzusprechen. „Ich habe gesagt: Wenn ihr auf der Straße bleiben wollt, bitte schön. Wenn ihr anders leben wollt, bin ich eure Rettung.“

Irène Tassembedo hat viele Leben gehabt. 1956 wurde sie als Tochter eines Arztes in Ouagadougou geboren. Dass ein Mädchen tanzen will, sei zu jener Zeit ein Skandal gewesen, erzählt sie. „Es klang nach Selbstverwirklichung, und das ging aus zwei Gründen nicht. Zum einen, weil man sich in einem armen Land nicht selbst verwirklicht. Und zum anderen war ich eine Frau, die hatte sich zu bescheiden. Und nur das.“ Zum Glück besaß Tassembedo einen Vater, der – statt Vorurteile zu pflegen – seine Tochter förderte.

Mit 20 Jahren ging sie zur Tanzausbildung in den Senegal, danach in die USA, bis sie schließlich nach Frankreich kam. Nach ersten Erfolgen begründete Tassembedo in Paris die eigene Tanzkompanie und als Tribut an ihre Heimat das Ballet National de Burkina Faso. Ab 1997 arbeitete sie mit dem Theaterregisseur Matthias Langhoff zusammen, der damals an der Seine inszenierte, und spielte in französischen Filmproduktionen mit.

Krokodil im Haus

Tassembedos Experiment sprach sich in Ouagadougou schnell herum. Als sie im Oktober 2009 mit ihrem „Kurs für junge Mädchen aus schwierigen sozialen Verhältnissen“ begann, standen viele vor ihrer Tür, die noch jung, aber am Ende waren. Eine davon war Cecile, die mit 14 ihre Eltern verlor und sich über Wasser hielt, indem sie ihren Körper verkaufte. Als sie Tassembedo traf, war sie 18 und rechnete nicht damit, noch lange zu leben. „Viele Mädchen, die ich kannte, waren an Aids gestorben“, erinnert sich Cecile. Dass die heute 21-Jährige unbeschwert erzählen kann, verdankt sie auch ihrem Erfolg und Talent, mit dem sie sich in Tassembedos Tanzstudio durchgesetzt hat. „Wo ich herkam, und wie ich gelebt hatte, das verschwieg ich am Anfang. Heute rede ich davon, weil das anderen Mut macht“, glaubt sie. Ihre Augen bleiben während des Gesprächs auf den Boden gerichtet, eine Hand knetet die andere.

Haben die Mädchen Talent und sind nicht älter als 23 Jahre, können sie bei Tassembedo ausgebildet werden. Fragen zu Herkunft und Vorleben müssen nicht beantwortet werden.

„Die Mädchen sind seelisch fragil. Ich kann sie nicht einfach nach ihrer Vergangenheit fragen“, meint Tassembedo. „Ich denke, ihre Geschichte geht mich auch nichts an.“ Wichtiger als die Frage, woher sie kämen, seien andere Dinge. „Sie haben nie gelernt, diszipliniert zu sein. Sie gingen nie zur Schule, sie lernten nie lesen und schreiben. Ich schicke sie zur Alphabetisierung, doch sie schwänzen. Ich sage, du fliegst raus, wenn du nicht lernst. Und dann schleppe ich sie doch zum Arzt, wenn sie krank sind. Und sie werden oft krank!“ Das Schlimmste von allem aber bleibe die seelische Verfassung der Mädchen, die oft devot und willenlos seien. „Hier in Burkina Faso haben Frauen keine Vorstellung von sich selbst. Sie ändern nichts, sie akzeptieren alles. Ich sage meinen Mädchen immer wieder: Mit Bescheidenheit kommt ihr nirgends hin.“

Lange haben Tassembedo Geldsorgen bedrängt. Damit die Mädchen wirklich dem Strich fern bleiben, finanziert sie deren Lebensunterhalt. Manche haben Verwandte, bei denen sie schlafen können, andere übernachten in Tassembedos Haus, in dem noch ein Adoptivkind, zwei Riesenschildkröten, Hunde, Katzen und ein Krokodil leben. Einmal am Tag kocht Tassembedos Schwester für alle eine warme Mahlzeit. „Gäbe es niemanden, der uns unterstützt, wäre das unmöglich.“

Helfer und Sponsoren fanden sich, als Tassembedo den inzwischen verstorbenen Regisseur Christoph Schlingensief kennenlernte, der in Burkina Faso ein Operndorf aufbauen wollte. Obgleich schon schwer krank, reiste Schlingensief mehrmals nach Ouagadougou und beschrieb seine Begegnungen mit der westafrikanischen Kultur in seinem Stück Via Intolleranza II. Basierend auf der Oper von Luigi Nono geht es um die Frage, warum der Westen Afrika helfen will, obwohl er sich doch selbst oft nicht mehr zu helfen weiß. An der Choreografie war Tassembedo beteiligt. Heute sitzt sie im Beirat des Operndorf-Projekts. Nach Schlingensiefs Tod im August 2010 wurde die Errichtung des Dorfes fortgesetzt, inzwischen ist Bauphase I beendet.

Trotzdem hat Irène Tassembedo auch inzwischen einsehen müssen, dass ihr in Europa geprägter Glaube – alles wird möglich, wenn man nur will – in Ouagadougou nicht viel wert ist. „Ich hatte so vieles vergessen: Die Armut, Staub und Hitze, den ganzen mühsamen Lebenskampf.“ Dennoch glaube sie, durch Tanz Hoffnung zu bringen. „Tanz ist Zukunft, Traum, Geschichte, Leben, Trauer, Freude. Tanz kann die Wirklichkeit verändern, wenn man sich ihm hingibt.“

In Ouagadougous besserer Gesellschaft stößt Tassembedo mit ihrer emanzipierten und emanzipierenden Botschaft noch immer auf wenig Gegenliebe. „Die Leute sagen, ich hätte einen Knall. Das ist gut für mich. So kann ich machen, was ich will. Ich kann nicht anders, als mich meiner Leidenschaft hinzugeben.“

Andrea Jeska schrieb zuletzt über das juristische Nachspiel zum Genozid 1994 in Ruanda

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