Held – oder Verbrecher?

Ruanda Paul Rusesabagina, Hauptfigur im Film „Hotel Ruanda“ über den Genozid von 1994, ist des Terrorismus angeklagt
Ausgabe 39/2020
Polizisten eskortieren Paul Rusesabagina am 14. September zum Gericht in Kigali
Polizisten eskortieren Paul Rusesabagina am 14. September zum Gericht in Kigali

Foto: AFP/Getty Images

Am 28. August steigt ein Kleinflugzeug der privaten Charterfirma GainJet in den sonnigen Himmel über Dubai und nimmt Kurs auf die ruandische Hauptstadt Kigali. Die Maschine des in Athen und London ansässigen Unternehmens, das sich als Dienstleister für VIPs und betuchte Geschäftsreisende empfiehlt, erreicht sechs Stunden später ihr Ziel. Noch am selben Tag zeigt das ruandische Fernsehen, wie ein Mann, den die dortige Regierung seit Jahren beschuldigt, Kopf einer Terrororganisation zu sein, in Handschellen aus einem Transporter steigt. Die Rede ist von der Verhaftung eines notorischen Verbrechers, der viel zu lange den Schutz des Westens genossen habe.

Bilder von Terrorverdächtigen aus Europa oder Nordamerika, die der ruandischen Gerichtsbarkeit unterstellt werden, sieht man häufig im ruandischen Fernsehen. Diesmal jedoch hat der Fall eine andere Dimension. Der Mann, den man im Kleinjet nach Kigali holte, gilt international als Held, bislang zumindest. Es handelt sich um den 66-jährigen Paul Rusesabagina, der durch den Spielfilm Hotel Ruanda (von 2004) Weltruhm als eine Art Oskar Schindler Zentralafrikas erlangte. Damals Vizemanager der in Wirklichkeit „Mille Collins“ heißenden Herberge, soll er etwa 1.200 Tutsi während des Genozids von 1994 durch geschickte Verhandlungen mit Hutu-Milizen das Leben gerettet haben. So jedenfalls stellt es der Film dar.

Seit Rusesabagina, der bis zuletzt in den USA gelebt hat, zum vehementen Kritiker des ruandischen Präsidenten Paul Kagame wurde, sind diverse Bücher und Berichte erschienen, die das Hollywood-Heldenepos der Lüge bezichtigen und in Rusesabagina den skrupellosen Komplizen des HutuMobs sehen. Er habe 1994 nicht aus Mitgefühl, sondern aus Gier gehandelt.

Brisant ist der Fall unter anderem deshalb, weil Rusesabagina offenbar nicht, wie von der ruandischen Regierung behauptet, wegen eines internationalen Haftbefehls von Dubai ausgeliefert wurde. Dort wird offiziell bestritten, in die Causa Rusesabagina involviert zu sein. Keinesfalls freiwillig, so seine Familie, sei er nach Ruanda geflogen, sondern in Dubai entführt und mit Gewalt nach Kigali gebracht worden, unter Beihilfe von GainJet als der Firma, die sich um die Wartung des Privatflugzeugs von Präsident Kagame kümmere. Auf die Anfrage der Autorin, ob man die Beförderung Rusesabaginas bestätigen oder verneinen könne, gab GainJet keine Antwort.

Rusesabagina sitzt seit seiner Ankunft in Haft, wird vom Runda Investigative Bureau (RIB) verhört und muss mit einem Verfahren wegen Terrorismus und Mordes rechnen. Man beschuldigt ihn, Gründer und Anführer der im Exil agierenden Oppositionsbewegung MRCD (Bewegung für Demokratischen Wandel) und der PDR-Ihumure (Partei für Demokratie) zu sein. Der bewaffnete Flügel der MRCD überfiel 2018 nahe dem ruandischen Nyungwe-Wald einen Bus und tötete neun Menschen, von einem weiteren Überfall ist die Rede. Die MRCD gehöre zudem, so die Regierung in Kigali, einer Vereinigung militanter Gruppen aus ehemaligen Völkermördern an, die vom Ostkongo aus operierten.

Für drei Oscars nominiert

Bei den jetzigen Ermittlungen lässt sich schwerlich ausblenden, dass Rusesabagina belgischer Staatsbürger ist und in den USA über einen Permanent-Residence-Status verfügt. Der renommierte Thinktank New York Center for Foreign Policy Affairs fordert die Regierung in Kigali bereits auf, Rusesabagina den UN zu übergeben und alle Vorwürfe gegen ihn mit Beweisen zu belegen. Rusesabaginas US-Anwälte, denen der Kontakt zu ihrem Mandanten verwehrt ist, befürchten, der Inhaftierte könnte gefoltert werden.

Der Streifen Hotel Ruanda mit dem Zusatz „based on a true story“ wurde für drei Oscars nominiert. 2005 erhielt Rusesabagina die Presidential Medal of Freedom, eine der höchsten Auszeichnungen der USA. Wie auf alle tatsächlichen oder mutmaßlichen Heroen, die Afrika hervorbringt, reagierte die westliche Welt mit Entzücken. Rusesabagina galt als Lichtgestalt, die dem Genozid Humanität entgegensetzte.

Wann erste Zweifel am Heldenmythos aufkamen – bevor oder nachdem Rusesabagina zu einem der Kritiker Paul Kagames wurde –, lässt sich nicht mehr feststellen. Romeo Dallaire, 1994 Kommandeur der UN-Blauhelme in Ruanda, hat die Filmstory stets in den Bereich des Fiktionalen verwiesen. Die Menschen jenes Hotels hätten überlebt, weil es von seinen Soldaten bewacht worden sei. 2014 veröffentlichte Edouard Kayihura, einer der Überlebenden aus dem Mille Collins, die „wahre Geschichte“. Mit gehörigem Pathos und dem Ausdruck moralischer Überlegenheit eines Tutsi beschrieb das Buch Rusesabagina als Mittäter mörderischer Hutu. Er habe die Verzweifelten eiskalt vor die Wahl gestellt, entweder ihren Besitz herzugeben oder den Milizen ausgeliefert zu werden, was den sicheren Tod bedeutete.

Der Fall Rusesabagina zeigt, dass die Schatten des Völkermordes vor 26 Jahren lang und dunkel bleiben. Die Feindschaft zwischen Hutu und Tutsi besteht fort. Sie zehrt von Intrigen und Verleumdungen, Lüge und Verrat. Verlagert haben sich die Schauplätze des ethnischen Konflikts. Man findet sie heute mehr im Osten des Kongo, wo nun kongolesische Zivilisten zu Opfern werden. Zugleich wird um die Deutungshoheit über Ruandas jüngste Vergangenheit gerungen. Die Post-Genozid-Wahrnehmung, wie sie sowohl von der Regierung Kagame wie diversen Oppositionsgruppen im Exil ausgeht, ist paranoid, schwarz-weiß und manipulativ. Es gibt nur Freund oder Feind, Täter oder Opfer. Wer heute das eine ist, kann morgen das andere sein. Ehemalige Weggefährten des ruandischen Präsidenten wurden über Nacht zu Verrätern erklärt wie Rose Kabuye, einst ranghöchste Frau in Kagames Armee, ebenso Generäle, Geheimdienstchefs und Botschafter. Manche verschwanden, andere fand man tot in einen Hotelbett oder sie starben unter den Reifen eines Fahrzeugs. Wieder andere gründeten Exilparteien oder unterstellten sich deren Schutz. Groß ist die Zahl jener, die – notfalls mit Gewalt – stürzen wollen, was in ihren Augen Kagames elitäres Tutsi-Regime ist. Sie haben das Ziel, die Macht wieder in die Hände der Hutu-Mehrheit zu legen und das mit einer mörderischen Ideologie zu begründen.

Nach 1994 schrieben auch in Ruanda die Sieger, in diesem Fall die heutige Regierungspartei von Paul Kagame, die Geschichte. Und die geht so: Die Hutu waren die Mörder, sie planten den Völkermord von langer Hand, die Franzosen halfen ihnen, das belgische UN-Schutzkorps zog feige ab, und der Rest der Welt sah zu. Erst die Ruandische Patriotische Front (RPF) beendete den Völkermord, zog die Täter zur Rechenschaft, baute das Land wieder auf, schuf Wachstum. Tatsächlich stimmt das alles, aber eben nur zum Teil. Unter Kagames Kritikern finden sich viele Täter von 1994 und zweifelhafte Figuren, aber auch frühere Mitkämpfer, Minister und Journalisten, die ihm einen autokratischen Stil vorwerfen, dazu den unverhohlenen Griff nach den Rohstoffen des Ostkongo.

Er ist nicht der Einzige

In den vergangenen Jahren wurde die Version des doppelten Genozids kolportiert, der zufolge Kagame und seine Armee auf ihrem Weg durch Ruanda selbst mordeten. Nahrung fand diese Theorie durch das Buch In Praise of Blood der kanadischen Journalistin Judi Revers. Darin beschreibt und untermauert sie mit Dokumenten angebliche Menschenrechtsverbrechen der ruandischen Regierung.

Rusesabagina ist nicht der Einzige, der in Ruanda zum Feind erklärt worden ist. Auf der Flucht ist der ehemalige ruandische Botschafter in Deutschland und spätere UN-Missionschef, Eugéne Gasana. Als ihn Staatschef Kagame 2016 plötzlich aus New York zurückbeorderte, tauchte Gasana unter und erhielt Aufenthaltsrecht in den USA, da er geltend machte, um sein Leben zu fürchten. Wie Rusesabagina wird Gasana in Ruanda beschuldigt, Führer einer terroristischen Vereinigung zu sein. Verwiesen wird auf einen Besuch Gasanas beim ugandischen Präsidenten Museveni, in dem Ruanda den Unterstützer einer anti-ruandischen Diversion sieht. Überdies erstattete eine ruandische Praktikantin in den USA Anzeige gegen Gasana wegen angeblicher Vergewaltigung.

Im August wurde der kongolesische Gynäkologe Denis Mukwege, Friedensnobelpreisträger von 2018, durch Kagames Sicherheitsberater in einer Fernsehsendung beschuldigt, mit der terroristischen Gruppierung FDLR zu paktieren. Mukwege hatte den Nobelpreis wegen seines mutigen Einsatzes für in seinem Land vergewaltigte Frauen erhalten. Telefonisch und über die sozialen Medien erhält er inzwischen Morddrohungen.

Andrea Jeska, Journalistin und Schriftstellerin, hat mehrere Bücher veröffentlicht, u. a. Die Sehnsucht des Schlangengottes über Simbabwe

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