Im Herz der Finsternis

Kongo In den östlichen Kivu-Provinzen werden Tausende unvorstellbar brutal vergewaltigt. Andrea Jeska hat Mama Masika im Dorf Minova besucht, die sich dort um die Opfer kümmert

Ich begegnete Mama Masika nicht durch Zufall. Ich war in den Ostkongo gereist, nach Goma, um mir Hilfsprojekte für vergewaltigte Frauen anzusehen, und kam in eine Region, die Margot Wallström, UN-Beauftragte für sexuelle Gewalt, als Vergewaltigungshauptstadt bezeichnet hat. Laut der Organisation Ärzte ohne Grenzen finden 70 Prozent der Vergewaltigungen weltweit in den Kongo-Provinzen Südkivu und Nordkivu statt. In Zahlen: Gut 1.000 im Monat.

Nur wenige Frauen sind bereit, ihr Schweigen zu brechen, und Einzelheiten ihres Martyriums zu erzählen. In einer Kultur, die Opfer als Schuldige geißelt, stehen Scham und Schande dem Wort im Weg.

Mama Masika ist überall unter diesem Namen bekannt. Mama ist ein Ausdruck von Respekt. In ihrem Dorf Minova kennt man sie als Samariterin, die Vergewaltigungsopfern hilft. Wer nicht weiß, wohin, weil vom Ehemann oder der Familie verstoßen, schlägt sich nach Minova durch. Manche unter Qualen, erzählt Mama Masika, weil ihre Wunden so schlimm sind – es gäbe Frauen, auch Männer, sagt sie, die nach dem langen Weg vor ihrer Tür stehen, zusammenbrechen und sterben.


Mit Masika also solle ich sprechen, sagte man mir in Goma und erzählte von Wundertaten, die sich nach dem Stoff anhörten, aus dem man Heldengeschichten webt. Ich fuhr also nach Minova, nur 30 Kilometer von Goma entfernt, eine ewig lange Fahrt über Schlaglöcher so groß wie das Auto. Gerade hatte Regen Brücken weggerissen, Fahrzeuge mussten durch Flüsse, Fußgänger über Baumstämme balancieren.

Mama Masikas saß vor ihrem Haus, inmitten eines Bananenhains und zwischen einem Dutzend Frauen, Kinder an den Röcken oder auf dem Schoß. Sie schien alt, das Gesicht verschlossen, Narben auf Wangen und Hals. Auf dem Rücken trug sie Baby Rita, ihr Adoptivkind. Dessen Mutter war eine von jenen, die es bis zu Masika schafften und dann an ihren Verletzungen starben.

Unterm Wellblech, an den Wänden ihrer Hütte, hängen Poster, die Formen sexueller Gewalt festhalten und das Foto einer alten Frau mit verhärmten Zügen umrahmen. „Alle Frauen jeden Alters sind durch das internationale Menschenrecht geschützt“, steht neben der Galerie. Ob sie das nicht als Hohn empfinde, ist meine erste Frage. Nein – meint Masika – als Trost, dass es ein solches Gesetz wenigstens gibt. Sie erzählt. Präzise ihre Schilderung, kühl ihre Stimme. So, als wolle sie Distanz zum eigenen Schicksal halten. Ihr Unterleib sei geschändet von Stöcken und Gewehrläufen. Acht Operationen habe sie überstanden. Sie wurde von zwöf Soldaten vergewaltigt, anschließend geschah Gleiches mit ihren beiden Töchtern, 12 und 13 Jahre alt. Masika hörte sie schreien, sie wollte ihnen helfen und konnte sich vor Schmerz nicht rühren. So kam zum Ekel die Schuld.

Menschlichkeit sei der kostbarste Schatz der Afrikaner, schreibt der Zeit-Autor Bartholomäus Grill in seinem Buch Ach, Afrika. An Masika fand die Menschlichkeit ihr Ende. Und in diesem Ende einen Neubeginn. Sie wollte sterben, sagt sie, als sie nach sechs Monaten das Hospital verließ. Verwitwet, traumatisiert, schuldig an ihren Töchtern. Sie hätte sich von den Tätern in Stücke hauen lassen sollen, sagt sie, das hätte die Mädchen nicht gerettet, aber vielleicht ihre Ehre. Die habe sie sich wiedergeholt, indem sie beschloss, anderen Opfern zu helfen. Seither sammelt sie Gelder von Hilfsorganisationen, und ein Sammelsurium von Schildern an ihrer Tür zeigt die Namen der Geber. Sie kauft Land, damit die Frauen anbauen und ernten. Sie schickt die minderjährigen Mütter, die auf ihrem Rücken die ungeliebten Kinder ihrer Vergewaltiger herumtragen, wieder zur Schule. Dass diese Mädchen ihre Kinder hassen, kann sie nicht verhindern. Die Existenzlosigkeit schon.


Ich habe Masika erst nicht geglaubt. Vielleicht, weil ich auf die Wucht dieser Einzelheiten nicht vorbereitet war. Ein schreckliches Ereignis dieser Art schien mir schon mehr, als ein Mensch ertragen kann. Alles zusammen klang nach einer Menagerie der Grausamkeiten. Als Masika am Ende ihrer Geschichte das Gesicht in den Händen barg, dachte ich, sie hat erzählt, was ich hören wollte. Sie trägt dick auf, um zu Geld und Aufmerksamkeit zu kommen. Ich war nicht bereit, dieses Ausmaß an Grausamkeit anzunehmen. Meine Zweifel, gemischt mit hilfloser Wut, wuchsen noch, als Masika vor die Hütte trat und eine der Frauen ein Lied anstimmte, in das die anderen einfielen: Wer ist unser Engel? Mama Masika! Wer hat uns errettet? Mama Masika!

Erst als ich nach Deutschland zurückgekehrt war und mich durch die Protokolle der Vergewaltigungsopfer las, wusste ich, dass Masika nicht gelogen hatte. Was sie ihr angetan wurde, erlebten auch andere. Und es gab weiß Gott noch Steigerungen der Grausamkeit.

Vergewaltigung als Kriegswaffe ist nicht neu – aber Frauen, Männer und Kinder systematisch und massenhaft zu missbrauchen ist ein Spezifikum des Kongo. Es gibt viele düstere Orte, an denen man nicht geboren sein will – ganz weit oben auf der Liste stehen die Kivu-Provinzen, womöglich gleichauf mit Somalia. Kriegerische Konflikte toben hier seit fast einer Generation ohne Unterbrechung. Hauptakteure sind die aus ehemaligen ruandischen Hutu-Milizen bestehenden Demokratischen Kräfte zur Befreiung Ruandas (FDLR) und der Nationalkongress zur Verteidigung des Volkes (CNDP), der zwar 2009 offiziell in die kongolesische Armee eingegliedert wurde, dessen Generäle aber weiter eigenen Interessen folgen. Auch reguläre Soldaten des Kongo sind eine Gefahr. Oft monatelang ohne Sold, nehmen sie sich, was sie wollen, mit Gewalt. In allen Kriegen ist es gefährlich, Soldat zu sein. Im kriegerischen Konflikt des Ostkongo ist es gefährlicher, eine Frau zu sein, schreibt Joanne Sandler, Mitarbeiterin von UNIFEM, der UN-Frauenorganisation.


Als ich 2008 erstmals Mal nach Goma reiste, wurde die Stadt von Laurent Nkunda und seinen CNDP-Rebellen belagert. Journalisten überfluteten die Gegend und wohnten zumeist im Hotel Ihusi – mit Swimming Pool und traumhaftem Blick auf den Kivu-See. Das Ihusi verdoppelte über Nacht seine Preise und stockte das Frühstücksbüffet auf.

Innerhalb weniger Tagen waren Abertausende Flüchtlinge nach Goma geströmt und kampierten auf barem Vulkangestein. Chaos und Choleragerüchte schwirrten durch die Stadt. Ich traf eine Frau, die war zwölfmal vertrieben worden. Von allem, was sie dabei auf Kopf und Rücken mit sich schleppte, war ihr am Ende ein Kochtopf geblieben. Was aus der Familie geworden war – sie wusste es nicht. Ich sah einen weinenden Vater, dem acht seiner Kinder auf der Flucht gestorben waren, das letzte – ein neunjähriges Mädchen – wog gerade noch ein paar Kilo und rang mit dem Leben.

Im Ihusi fand sich damals die einzige Bar von Goma. Jeden Abend wurden die Ereignisse des Tages diskutiert. In den Gesprächen der Reporter ging es um Truppenstärken und Gefechtslagen. Schon damals wurden die Blauhelme bespottet, galten die Soldaten der MONUC, des größten UN-Kontingents in Afrika, als unfähige, passive Alibiträger einer desinteressierten Welt. Als ich meine Kollegen fragte, ob sie auch über die Massenvergewaltigungen berichteten, winkten sie ab. Ein französischer Korrespondent meinte, sein Blatt habe ihn geschickt, um zu recherchieren, inwiefern Frankreichs Rohstoffinteressen durch den Kivu-Konflikt gefährdet seien. Und ein britischer Kameramann erzählte, sein Sender sei vor allem nur hungernden Kindern interessiert.

Die Täter banalisieren

Zwei Jahre zuvor hatte es mit The Greatest Silence von der Amerikanerin Lisa F. Jackson den ersten Dokumentarfilm über Massenvergewaltigungen im Kivu gegeben. Bis dahin wusste die Weltöffentlichkeit fast nichts von sexuellen Übergriffen, unter denen die Frauen des Kongo schon seit mindestens zehn Jahren litten. Die Regisseurin, die als junge Frau in New York selber Opfer einer Vergewaltigung durch mehrere Männer wurde, reiste ein Jahr lang durch den Kongo und interviewte nicht nur Opfer. Auch Täter. Die Opfer bestätigten, was ich an Mama Masikas Aussagen bezweifelt hatte: Die unfassbare Brutalität. Die Täter banalisierten ihre Verbrechen. Er vergewaltige, so ein junger Soldat, weil die Frauen nicht freiwillig mitspielten. Mit gefälschter Ray-Ban-Sonnenbrille grinste er in die Kamera. Der Inbegriff eines Menschen, der die Gunst der Stunde nutzt, um Macht auszukosten, die er in Friedenszeiten niemals hätte. „Was sollen wir tun?“ fragte er. „Wir sind wochenlang im Busch, dann kommen wir raus und sehen eine Frau. Wenn die nicht will, muss ich eben meine Waffe benutzen.“

Als 2008 mit der UN-Resolution 1820 Vergewaltigung endlich zum Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit erklärt wurde, schrieben 71 kongolesische Frauenverbände an den Sicherheitsrat: „Wir möchten Sie daran erinnern, dass wir seit Jahrzehnten leiden, ohne nennenswerte Reaktion von Ihrer Seite. Sie müssen sicherstellen, dass diese Situation sich niemals wiederholt ...“


In der Klinik von Heal Africa stehen auf der Station für Frauen durchgelegene Matratzen an den Wänden. Notbetten für Zeiten, in denen Vergewaltiger Hochsaison haben. Die Engländerin Lyn Lusi ist Mitbegründerin von Heal Africa, einer US-Organisation, die eigentlich das Ziel hatte, kongolesische Ärzte auszubilden – der Krieg im Ostkongo änderte alles. Heute ist die Klinik eines von zwei Spitälern in den Kivu-Provinzen, in denen Vergewaltigungsopfer aufgenommen werden. Spezialisiert ist man auf Fistula, eine Verletzung des Gewebes zwischen Vagina und Blase oder Vagina und Darm.

Wenn Lyn Lusi die Liste der Vergewaltigten auf den Tisch holt, die nur in einem Monat bei ihr Hilfe suchten, wird ihre Stimme flach und müde. „Wir haben immer mehr Opfer unter zehn Jahren. Ich möchte das Ausmaß der Verletzungen wirklich nicht beschreiben. Die meisten sterben daran. “ Als junge Frau kam Lyn nach Goma, verliebte sich in den Chirurgen Jo Lusi und blieb. „Damals gab es diese sexuelle Gewalt noch nicht. Die kam erst nach dem Völkermord in Ruanda, als sich die Hutu-Milizen hier neu formierten.“

Fragt man Mama Masika, warum die Täter so grausam sind und auch vor Kindern nicht halt machen, schweigt sie lange. „Frauen sind in diesem Land wenig wert“, sagt sie schließlich leise. „Die Männer denken, wir gehören ihnen, und es ist deshalb nicht schlimm, was sie mit uns machen.“


Vor Jahren habe ich Mütter im nordossetischen Beslan interviewt, deren Kinder 2004 Opfer von Terroristen wurden. Damals gab es einen gemeinsamen emotionalen Nenner, eine Linie von Frau zu Frau, von Mutter zu Mutter. Trauer und Schmerz dieser Frauen waren mir begreiflich, nicht nur im Kopf, auch vom Gefühl. Mit Masika gibt es diesen Zugang nicht, die Art des an ihr verübten Verbrechens übersteigt meine Vorstellungskraft. Sie bleibt eine Fremde, und wie man sie aus dieser Geschichte entlässt, ist eine schwere Entscheidung. Als starke Frau, die von der Tat nicht bezwungen wurde, weil sie anderen hilft? Menschlichkeit lebt? Oder stößt man sie als ewiges Opfer zurück ins Herz der Finsternis? Lässt sie stehen, wo ohnehin alles verloren ist?

Eine von Mama Masikas Schützlingen ist die 16-jährige Celine, ihr zweijähriger Sohn das Kind eines ihrer Vergewaltiger. Von wem genau, weiß sie nicht. Ein ungeliebtes Kind, sagt Celine, oft denke sie darüber nach, den Jungen umzubringen oder sich, damit alles endlich ein Ende habe. Als Celine den Rebellen entkam, die sie aus ihrem Dorf verschleppt hatten, war sie nicht nur schwanger, sondern auch mit dem HI-Virus infiziert.

Für Celine und die anderen jungen Mütter hat Masika gerade Land gekauft. Dort werden Hütten entstehen, ein eigenes Zuhause. Kassava sollen sie anbauen, Ziegen sollen sie haben. Und morgens, da sollen sie zur Schule gehen.

Andrea Jeska ist Buchautorin bereist regelmäßig Zentral- und Ostafrika

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