Nicht einmal der Herrgott

Strassenkinder im südafrikanischen Durban Spätestens vor der Fußball-Weltmeisterschaft 2010 sollen sie aus dem Blickfeld verschwunden sein

Als Eugene von zu Hause fortlief, lag sein Vater betrunken an der Wand seiner Hütte in Mtubatuba. Die Mutter saß auf dem Stuhl und hielt ihre Augen mit den Händen verborgen. Sie sah nicht auf, als Eugene seine Tasche nahm. Sie sah nur auf den Plastikstuhl, einen blauen Stuhl, die Tasche aber war rot und weiß, selbstgenäht. Der blaue Stuhl und der Kopf der Mutter, den sie wie einen schweren Gegenstand in faltigen Händen hielt, war das letzte Bild, das Eugene mit sich nach Durban nahm, als er für immer weggehen wollte.

Eugene ist ein Zulu, und die Zulus sind ein stolzes Volk. Das sagen sie oft und gern. Und vielleicht waren sie es einmal, bevor die Arbeitslosigkeit und die Armut in ihrer Heimatprovinz Kwazulu Natal im Osten von Südafrika ihnen den Stolz nahm. Bevor Zahlen in ihr Leben krochen, die besagten, jeder Dritte von ihnen sei mit dem HI-Virus infiziert, jeder Zweite davon werde in den kommenden zehn Jahren daran sterben. Da riefen die Alten ihre Ahnen und Zauberdoktoren an, opferten ihr Vieh. Aber um die Begräbnisse ihrer Kinder kamen sie nicht herum, und nicht um die Erkenntnis, nichts mehr zusammenhalten zu können.

Als Eugene von zu Haus fortlief, hatten die vier Kinder der Familie seit Monaten kaum noch etwas zu essen. Zur Schule gingen sie auch nicht mehr. 160 Rand für eine Schuluniform waren soviel, wie die ganze Familie im Monat zum Leben hatte. Der Vater konnte nicht schreiben, die Mutter auch nicht, immer hatten sie das Vieh anderer über die Weiden getrieben und sahen nicht ein, warum ihre Kinder dies nicht auch tun sollten. Es gab keinen besonderen Anlass fortzulaufen. Nur das stete Gefühl von Hunger und die Einsamkeit eines Kindes, um das sich niemand kümmert.

Inzwischen ist Eugene 21 Jahre alt und lebt seit 14 Jahren auf den Straßen von Durban. In dieser Zeit war er in zehn verschiedenen Heimen für Straßenkinder und ist jedes Mal wieder fortgelaufen. Zweimal hat er wegen Raubes im Gefängnis gesessen. Einmal in all diesen Jahren hat er den Weg nach Hause auf sich genommen, da war die Muter tot und der Vater verschwunden, und jene, die noch zu seiner Familie gehörten, sahen ihn mit Verachtung an. "Komm wieder, wenn du Geld verdienst", zischten sie ihm zu.

"Sag mir", fragt Eugene jeden, der ihm zuhören will, "wie kann einer, der von Betteln und vom Diebstahl lebt, wieder ein Mensch werden?" - "Du bist doch ein Mensch", hat ihm der Pfarrer der Methodistenkirche an der Ecke neulich gesagt. Auf dem Asphalt vor der Kirche leben Eugene und die anderen Kinder, schlafen, schnüffeln. Den Klebstoff haben sie in leere Trinkpackungen gefüllt, die glasigen Augen verraten die Betäubung. Manchmal sind sie so stoned, dass sie nur noch kichern, lallen und nicht mehr aufstehen können, dann machen sie sich in die Hosen und liegen hilflos in ihren Exkrementen, bis der Effekt nachlässt und sie zum Strand von Durban schleichen, um sich dort unter den öffentlichen Duschen zu säubern. Wo die Kinder lagern, stinkt es nach Urin und Erbrochenem, die Wolldecken sind filzig und verdreckt. Vor der Methodistenkirche sind zwei große Gitterzäune und zwei Tore mit Kameraüberwachung. Nur unwillig wird den Straßenkindern Eintritt gewährt - so, als wolle nicht einmal der Herrgott seine Hand über sie halten.

"Ich bin ein Mensch?", hat Eugene zum Pastor gesagt. "Wie kommt es dann, dass ich nicht wie einer lebe?" Der Pastor hat etwas von Wiedergeburt und dem Glauben an Jesus Christus gemurmelt, aber einen Job hatte er für Eugene nicht.

Der Junge ist einer von jenen, denen man das Leben auf der Straße auf den ersten Blick nicht gleich ansieht. Seine Kleider sind gewaschen und nicht zerrissen. Doch wenn Eugene aufsteht, geht er, als habe er Kinderlähmung gehabt. Der Klebstoff hat seine Muskeln, sein Nervengefüge ruiniert. In einigen Monaten könnte er komplett gelähmt sein, so wie die 17-jährige Nmasile aus der Gruppe, die von den anderen huckepack herumgetragen, gefüttert und gewaschen wird.

Ein Mensch sein, das heißt für Eugene, nichts mehr rauben, nicht mehr stehlen. Jeden Morgen nehme er sich vor, kein Unrecht zu tun. Am Abend aber ist der Hunger wieder da und die Sucht nach dem Klebstoff, sind die Schmerzen in allen Knochen gewaltig, und die Kälte zieht durch die dünne Kleidung. "Am Ende eines langen Tages trägt sich der Wille ab. Wenn die Nacht kommt, finde ich mich in Verzweiflung wieder."

Seit einem Jahr weiß Eugen, dass er HIV positiv ist, und das, sagt er ohne Zynismus, sei ein Hoffnungsschimmer. Sterben zu dürfen, wie tröstlich!

Eugene ist eines von geschätzten 1.000 Straßenkindern in Durban - und diese Zahl ist so falsch, wie sie richtig sein kann. Niemand registriert all die Kinder, die von zu Hause fort laufen. Manche sind Teenager, rebellisch und auf der Suche nach Freiheit. Manche fliehen vor elterlicher Gewalt oder sexueller Belästigung - oft vor jenen Männern, die glauben, der Beischlaf mit einer Jungfrau, auch der erzwungene, heile sie von Aids.

Die meisten Straßenkinder gaben die Sicherheit ihres Zuhauses auf, weil es schlicht keine Sicherheit mehr war. Sie sind Waisen oder Halbwaisen, die Eltern starben an Aids oder der Vater verließ die Familie, die Mutter hatte kein Geld, um die Kindern zu versorgen und in die Schule zu schicken. Es sind keine Einzelschicksale. Alle Kinder auf der Straße erzählen von einem Leben voller Hunger und Vernachlässigung. Viele sind von der Polizei aufgegriffen und nach Hause gebracht worden, nach einigen Wochen liefen sie wieder fort. Die Straße und die Gruppen der anderen Kinder bieten mehr Geborgenheit, mehr Anerkennung.

Im zurückliegenden Jahr war die 17-jährige Mbali Eugenes Freundin. Als er sie nicht mehr beschützen konnte, hat sie sich einen anderen Boyfriend gesucht, der sie davor bewahrt, vergewaltigt zu werden, der Essen und Kleidung für sie besorgt. Ohne Beschützer können die Mädchen auf der Straße nicht leben. Und ohne Sex finden sie keinen Beschützer. Oft werden sie schwanger, finden eine Klinik zum Entbinden und nehmen die neugeborenen Babys mit sich, wenn sie ihr Straßenleben fortsetzen. Auch Mbalis 15-jährige Freundin Amanda hat ein Kind. Das aber nahm man ihr fort, als Amanda und der unbekleidete Säugling aufgegriffen wurden, als man sie in ein Heim brachte und ein Bluttest ergab, dass beide mit dem Hi-Virus infiziert sind. Nun lebt das Baby in einem Waisenhaus, und Amanda haben die Kinder in ein Versteck gebracht, in dem sie vor sich hinstirbt.

Der Jüngste in Eugenes Gruppe ist der siebenjährige John, der allen erzählt, er sei 19, und um sich schlägt, wenn man ihm für diese Lüge in das kindliche Gesicht lacht. John ist von der Gnade der anderen am meisten abhängig. Haben sie gute Tage, wollen sie ihn beschützen und geben ihm das Meiste vom Essen. An schlechten Tagen bekommt er nichts, weil er der Schwächste ist und sich nicht wehren kann. Die starken Jungen bestimmen die Rangordnung, verteilen die erbeuteten Lebensmittel und stehlen Kleidung für die Mädchen ihres Herzens.

Mbali ist schön, und hat es deshalb leichter in der Gruppe. Die Jungen buhlen um ihre Gunst, man sieht es an der modischen Kleidung des Mädchens. Die langen Beine schauen unter einem knappen Minirock hervor und das Oberteil lässt eine Schulter frei. Einmal ist auch Mbali in ein Haus für Straßenmädchen gegangen, da hat man Kontakt zu ihrer Familie aufgenommen und nach mehreren Besuchen hat die Großmutter zugestimmt, die Enkelin aufzunehmen. Die Eltern - man kann es kaum noch hören - sind gestorben. "An Tuberkulose", flüstert Mbali.

Das Mädchen kehrte nach Hause zurück, weil die Großmutter versprach, für einen regelmäßigen Besuch der Schule zu sorgen. Dann erlitt die alte Frau einen Herzinfarkt, man brachte sie nach Johannesburg ins Krankenhaus, Mbali und ihr kleiner Bruder blieben allein zurück. Man versuchte, sie bei der Tante unterzubringen, aber die beschimpfte das Mädchen und beklagte jeden Rand, den sie für die Kinder ausgab, zählte ihnen jeden Bissen in den Hals. Als die ersten Männer auftauchten, die von dem Mädchen Sex wollten, als es keine Lebensmittel mehr im Haus gab, nahm Mbali ihren kleinen Bruder und kehrte nach Durban zurück. Das war vor einem halben Jahr. Nun leben sie beide auf der Straße und fühlen sich geborgener als allein mit jenen Männern der Nachbarschaft, die das Mädchen für Freiwild hielten.

"Man braucht ein Dorf, um ein Kind großzuziehen", lautet ein südafrikanisches Sprichwort, das sich in Zeiten von Aids beweisen muss. Und es nicht tut. Als der Virus begann, die Eltern dahinzuraffen, und überforderte Großeltern mit einer großen Enkelschar zurückblieben, war die Sozialstruktur durch Armut und Arbeitslosigkeit längst zerstört. "Ich habe keinen Vater" ist ein Satz, der in Südafrika wie ein Mantra scheint. Abertausende Männer haben ihre Familien verlassen, Abertausende von Frauen Kinder von einem Kerl bekommen, der keine Verantwortung übernahm. Zunehmend heißt der Satz: "Ich habe keine Eltern", und inzwischen sterben auch die älteren Geschwister, und natürlich ist es immer tabu, bleibt das Wort Aids unausgesprochen, die Krankheit ein Stigma.

Wenn das Problem der Straßenkinder öffentlich debattiert wird, geht es selten um deren Elend als vielmehr um deren kriminelle Ambitionen. Dass sie rauben, ist schlimm, dass sie leiden, interessiert weniger. "Sie sind Monster", sagt ein Durbaner Straßenpolizist und bemerkt, es sei besser, sich mit diesem Abschaum nicht zu unterhalten.

Die Fußballweltmeisterschaft 2010 vor Augen, beginnt man in Durban und den anderen Austragungsorten darüber nachzudenken, wie das Problem der heimatlosen Kinder zu klären sei. Weniger aus Mitleid mit der streunenden Schar, sondern eher aus Sorge um das Wohlergehen der Touristen. Stinkende, bekiffte, sterbende Kinder auf dem Asphalt - das entspricht nicht dem verordneten Image. John, Sozialarbeiter der Organisation Youth for Christ, die von der Kindernothilfe aus Deutschland finanziert wird, berichtet, in der Vergangenheit seien die Kinder vor die Tore der Stadt gekarrt oder für eine Weile eingesperrt worden, wenn ihr Anblick zu bestimmten Ereignissen unpassend schien. Während der Fußballweltmeisterschaft, so seine Befürchtung, werde es kaum anders sein. Es sei denn, die zynische Prophezeihung einer Durbaner Zeitung, erfüllt sich: Tausende von Touristen erwartet die Stadt und mit ihnen einen Anstieg der Nachfrage nach Sex. Und wer, so die Vermutung, eigene sich dafür besser als die hungernden Kinder der Straße.


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