Wir trafen Abdullah auf einem Feld bei Velika Kladuša, einer Kleinstadt im Nordwesten von Bosnien. Wie an vielen Tagen zuvor war er in die Stadt gekommen, um Informationen über die sich täglich verändernde Grenzsituation zu sammeln. Wollte hören, wo sich entlang des Zaunes, der Kroatien von Bosnien trennt und schwer bewacht ist, ein Schlupfloch finden könnte. An vielen Stellen führt dieser Zaun durch Hügel und Wälder, schwer einsehbar und von Patrouillen nicht vollständig zu kontrollieren. Nur an solchen Orten im geografischen Nirgendwo ist es noch möglich, die Grenze zu überqueren, um in diesen oder jenen EU-Staat zu gelangen.
Abdullah aus Pakistan, aus einem Ort in der Nähe von Karatschi, war zum Zeitpunkt unseres Treffens seit fast zwei Jahren unterwegs. Wie viele andere kam er über Griechenland, Albanien und zog durch die unwirtliche Hochgebirgsregion von Montenegro in Richtung Bosnien. Er wollte nach Deutschland, wo seine Eltern leben, die Pakistan bereits vor über sieben Jahren verlassen hatten. Abdullah hätte auf legalem Wege dorthin fliegen können, ihm war ein Familiennachzug zugebilligt. Dafür allerdings hätte er seine 72-jährige Großmutter Samina zurücklassen müssen, die ihn großzog, ihn kleidete, ihm die Schule bezahlte, mit ihm lebte. Die zwei Jobs hatte, um das zu schaffen – tagsüber arbeitete sie als Koranlehrerin, nachts bestickte sie Stoffe für den Verkauf auf dem Basar. Die Entscheidung, sich von ihr zu trennen, wollte und konnte Abdullah nicht treffen. „Es wäre wie Verrat gewesen.“ Also nahm er sie mit.
Wir mochten ihn sogleich. Das freundliche Gesicht, die weichen Augen. Er war ein junger Mann, aber auch noch ein Kind. Wie alt Abdullah ist? – Wir fanden es nie heraus. Anfangs bedeutete er uns, gerade 22 geworden zu sein, dann aber gestand er irgendwann, so um die 18 herum zu sein. Jedoch nicht, ohne uns zu versichern, er sei dennoch ein Mann, fühle sich weise, erfahren und über seine Jahre hinaus gealtert wegen der Verantwortung für die Großmutter, der Strapazen der Flucht, vor allem wegen der Bürde, vielleicht nie mehr weiterzukommen.
Im Camp ist man nicht sicher
Dass Abdullah und Samina nach 600 Kilometern Fußmarsch seit 21 Monaten in Bosnien festsitzen, dass ihre Flucht, wie es den Anschein hat, nur wenige Kilometer vor dem ersehnten Refugium Europa gescheitert ist – Abdullah kann nichts dafür und fühlt sich dennoch schuldig. „Ich hatte immer Angst, die Großmutter stirbt unterwegs“, erzählte er. „Ihre Gesundheit wird immer schlechter.“
Wir fragten, ob wir ihn wiedersehen könnten. Zusammen mit Samina. Wir versicherten, wir würden seine Anonymität wahren, aber er sagte, das sei nicht nötig, er habe nichts zu verbergen, er und Samina seien doch nur eine Großmutter und der Enkel. Sie lebten, berichtete er noch, in einem Camp mit zweitausend anderen Flüchtlingen in der Nähe der Stadt Bihać, dort sei man versorgt, aber nicht sicher. Es gebe viele Konflikte unter den Flüchtlingen, Kriminalität, Mobbing, außerdem herrsche die Macht der Stärkeren. Die alte Frau und er, zusammen seien sie nun einmal schwach. Er sagte das ohne Selbstmitleid. Daran merkten wir, er hat recht: Er ist seinen Jahren weit voraus.
Als wir Abdullah und Samina schließlich zusammen in Velika Kladuša wiedersehen, haben sie all ihr Gepäck dabei. Samina trägt einen gesteppten Mantel, ein fliederfarbenes Tuch um die Haare, sie wirkt schwach und sehr müde, nur die Augen sind wach. Die beiden bitten uns um Begleitung, sie wollen ein Zimmer mieten, noch eine Nacht wollen sie gut schlafen, bevor sie eine weitere Runde des „Spiels“ spielen. So nennen die Menschen auf der Flucht den Versuch, die Grenze zu überqueren – „the game“. Ein Jahr ist es nun her, dass es die Bestimmung von Velika Kladuša wurde, Endstation für alle Träume von einem neuen Leben im westlichen Europa zu werden. Unverhofft wurde aus der Kleinstadt das Zentrum eines weiteren Dramas unablässig fortgeschriebener Flüchtlingsgeschichten der EU-Peripherie. Damals war der Weg über die Balkanroute bereits lange versperrt, weil Ungarn entlang der Grenze zu Serbien einen 175 Kilometer langen Zaun gebaut hatte, durch den es kaum noch ein Durchkommen gab.
Für alle, die schon auf dem Weg waren, und für jene, die nach ihnen kamen, endete die Flucht wenige Kilometer vor dem Ziel. Oft gab es dort, wo sie nicht weiterkamen – in den dünn besiedelten Grenzorten –, keine Versorgung, keine Zelte, kaum Medikamente, zu wenig Strom, wenig Wasser. Es dauerte, bis in Serbien und später in Bosnien Unterkünfte und eine Hilfsstruktur geschaffen wurden. Bis heute sind die meisten dieser Flüchtlingscamps überfüllt.
Es soll ein Gerücht gewesen sein, das den Ausschlag gab. Die Grenze zwischen Bosnien und Kroatien sei bei Velika Kladuša manchmal geöffnet, hieß es. Tausende kamen daraufhin in eine Stadt, die ihnen nichts zu bieten hatte außer einer weiteren Enttäuschung. Wie viele Flüchtlinge jetzt, im Spätsommer 2019, noch in Bosnien sind, darüber gibt es keine zuverlässigen Zahlen. Es ist eine stets wogende Masse, einmal konzentriert, dann wieder auseinanderstrebend. 20.000 sind in den Camps registriert worden, doch dürften es viel mehr sein, die sich allein ohne Hilfe durchschlagen. Die in den Wäldern schlafen, einsam bei Nacht wandern und sich am Tag verstecken aus Furcht vor Entdeckung. Bei den meisten handelt es sich um junge Männer, die kräftigsten ihrer Familien, die losgehen, um eine Weltgegend zu erreichen, die in ihrer Heimat als das „gelobte Land“ gilt. Häufig sind es Kinder, sogenannte unbegleitete Flüchtlinge, die von ihren Eltern auf den gefährlichen Weg geschickt werden, um sie vor Krieg, Vertreibung und bitterer Armut zu schützen. Menschen, so alt wie Samina, gibt es höchstens ein Dutzend, wenn überhaupt.
Für die Bosniaken ist der Bürgerkrieg fast ein Vierteljahrhundert her. Das mag aus Sicht der Nachgeborenen eine lange Zeit sein, für jene, die ihn erlebten, gilt das nicht. Weil sich viele in Velika Kladuša noch gut erinnern können, was Heimatlosigkeit, Angst und Verzweiflung anrichten, war die Hilfsbereitschaft zunächst ungebrochen. Was die Regierung nicht leistete, glichen die Bewohner von Velika Kladuša aus: Sie gönnten den bei ihnen Gestrandeten Lebensmittel und Tatkraft, die sich freilich auf Dauer zu erschöpfen droht, denn viele Bosnier sind selbst zu sehr verarmt, als dass sie ihre eigenen Sorgen vergessen könnten. Mittlerweile nimmt die Hilfsbereitschaft deutlich ab.
„Ich will, dass sie aufgeben“
Zwei, die sich noch immer kümmern, sind Isaak Krajišnik und sein Sohn. Zusammen betreiben sie die Pizzeria Krajišnik, eines von drei Lokalen in der Stadt, in dem die Flüchtlinge Getränke für einen Euro erhalten, ihre Telefone aufladen, das W-Lan benutzen oder sich einfach hinsetzen dürfen. Im Dachgeschoss seines Hauses vermietet Krajišnik drei Zimmer mit je vier oder fünf Schlafplätzen, 20 Euro kostet die Nacht. Als ihn Abdullah und Samina nach einem Schlafplatz fragen, will er sie nicht aufnehmen. Zu leicht werde man ausgeraubt von allein reisenden jungen Männern, die keinen Halt mehr fänden. Viele seien viel zu verzweifelt, um sich Solidarität und Mitmenschlichkeit leisten zu wollen. Später nimmt uns Krajišnik beiseite und meint, wir sollten Samina und Abdullah überreden, ins Camp zurückzukehren. „Ich weiß, dass die beiden kein Geld haben. Und selbst wenn sie es über die Grenze schaffen, danach müssen sie vermutlich zu Fuß weiter. Sie erwartet unwirtliches Terrain, es kommen Flüsse, die man durchschwimmen muss. Die alte Frau wird das nicht schaffen. Deshalb gebe ich ihnen kein Zimmer. Ich will, dass sie aufgeben.“
Wir reden mit den beiden, doch sie winken ab. Es gibt kein Zurück, sagen sie. Samina erzählt von der Reise durch die Berge in Montenegro, mitten im Winter. Von Nächten, die so kalt waren, dass sie nicht schlafen konnten, in denen sie einfach immer weitergingen. Es habe Menschen gegeben, die vor ihren Augen in die Tiefe stürzten. Auch einen Erfrorenen, der einfach so dalag. „Es gibt keine Angst, die ich nicht schon hatte“, sagt Samina.
Am anderen Morgen bitten wir sie, uns ihre Geschichte zu erzählen. Es ist ein warmer Sommertag. Samina will im Park von Velika Kladuša unter den noch grünen Bäumen sitzen. Sie brauche dringend neue Schuhe, noch immer trage sie die Kleidung, in der sie einst aufgebrochen sei. Nur einen Wintermantel bekam sie im Camp, aber was solle sie mit dem jetzt anfangen? „Wir bräuchten Hilfe, aber hier gibt es keine. Wir schlafen auf der Straße, wir sind arm, wir können für nichts mehr bezahlen.“ Sie habe viel abgenommen auf der Flucht, sie esse nicht viel. „Ich habe einen hohen Blutdruck und manchmal Herzschmerzen. Ich muss vorsichtig sein.“
Geflohen sind die beiden vor den Taliban. Es gab einen Anschlag auf den lokalen Markt, mehr als einhundert Menschen starben. Weil die Dschihadisten mit weiteren Attentaten drohten, wurden die Schulen geschlossen, Samina hatte kein Geld, Abdullah auf eine Anstalt in der Stadt zu schicken. „Immer habe ich zu Gott gebetet, uns zu helfen, doch jetzt weiß ich nicht mehr, ob er das tun wird. Ich frage ihn, warum sind die Grenzen geschlossen? Dreimal haben wir es versucht. Ich habe zu den Soldaten gesagt, wir können nicht zurück, ich will zu meiner Tochter in Deutschland, bitte lasst mich durch. Sie haben gesagt, wir können dir nicht helfen. Ich fragte, warum nicht, ich bin nur eine alte Frau, ich lebe nicht mehr lange. Und sie sagten, so ist das Gesetz.“
Einmal hat Samina einen Schlepper gefragt, wie viel es kosten würde, sie über die Grenze zu bringen. „Der wollte 5.000 Euro. Nie in meinem Leben habe ich so viel Geld besessen. Ist das gerecht, dass nur die mit Geld weiterkommen? Ist es nicht schlimm genug, arm zu sein?“ Als die Nachricht kam, Abdullah dürfe nach Deutschland, wollte Samina ihn überreden, die Chance zu ergreifen. „Du bist meine Mutter, mein Vater, meine Großmutter“, hat Abdullah geantwortet. „Ich liebe dich sehr. Ich habe nur dich, du hast nur mich. Wir gehen zusammen.“ In Pakistan hatte ihm Samina ein Handy gekauft, wofür sie viele Nächte durcharbeiten musste. In Velika Kladuša sah sie zufällig, dass er das Bild eines Mädchens darauf gespeichert hat. Erst wollte sie ihn fragen, ob das eine zurückgelassene Freundin sei, dann ließ sie es. „Er ist sehr scheu“, sagt sie – und lacht dann doch einmal an diesem Tag.
Die beiden haben es auch in jener Nacht nicht über die Grenze geschafft – wie schon viele Male zuvor. Wieder war Samina zu langsam, sie mussten eine lange Pause machen. Ein paar Tage nach unserer Begegnung schreibt Abdullah über Whatsapp, Saminas Gesundheit schwinde, sie werde immer schwächer, die Angst, ihre Tochter nie wiederzusehen, drücke sie nieder. „Lange wird die Hoffnung sie nicht mehr tragen.“
Info
Dieser Text entstand als Teil des Projektes „Kein Weg nirgends“, das vom Kartographen-Stipendium von „Fleiß + Mut“ und der Mercator-Stiftung unterstützt wird
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