Der Polizeichef von Duisi will eigentlich gar keine Fragen beantworten. Seine Vorgesetzten sitzen in der Hauptstadt Tiflis und hätten eine Pressestelle, die für Auskünfte zuständig sei. Aber mein Dolmetscher ist mit einem seiner Freunde verwandt, und familiäre Beziehungen gelten im Südkaukasus immer noch mehr als Hierarchien. Wir sollten nur seinen Namen nicht nennen, falls über seine Auskünfte berichtet werde.
Der Polizeichef von Duisi ist der einzige Beamte, den man nicht von außen bei der Arbeit beobachten kann, weil sein Büro durch bewegliche Wände vom Rest des Gebäudes abgeschirmt ist. Die nagelneue Residenz der Polizei im Pankisi-Tal aber – dem Nordosten Georgiens an der Grenze zu Tschetschenien – ist ein gläserner Bau wie inzwischen vergleichbare Gebäude überall im Land. Diese Architektur diene der Transparenz, sagt der Polizeichef, und grinst schief, als habe er ein unanständiges Wort ausgesprochen. Über seine Region gebe es heute nur Gutes zu erzählen. Das 38 Kilometer lange Pankisi-Tal ist außerdem berückend schön mit seinen grünen Wiesen, den sie umgebenden, steil aufragenden schneebedeckten Gipfeln und Berghängen, aber auch den freilaufenden halbwilden Pferden. Das Volk der Kisten wohnt in diesem Idyll, Verwandte der tschetschenischen Wainachen, die vor einigen hundert Jahren über den großen Kaukasus kamen und schließlich Georgier wurden. „Nirgends im ganzen Land“, rühmt sich der Polizeichef beglückt, „ist die Kriminalitätsrate so niedrig wie hier: Sie liegt bei fast null Prozent.“
Wie alle anderen
Über ein Jahrzehnt ist es schon her, dass der von Russland als Top-Terrorist verfolgte Ruslan Gelajew – wegen seiner rücksichtslosen Kampfmethoden „Schwarzer Engel“ genannt – und seine Männer versuchten, im Namen des Dschihad das Tal zu beherrschen. Pankisi galt als eine von vielen Vorhöllen, wie es sie Ende der neunziger Jahre im Kaukasus gab. Durch das Tal lief eine Schmuggelroute für Waffen und Drogen, die bis weit nach Mittelasien reichte. Es gab entlegene Orte, an denen man seine Feinde ungestört und spurlos beseitigen konnte. Gleichzeitig bot sich hier ein Rückzugs- und Trainingsgebiet tschetschenischer Terroristen. Südossetien, die georgische Separatisten-Republik, an der sich im August 2008 der russisch-georgische Krieg entzündete, war auch so eine Vorhölle, Tschetschenien sowieso und dazu Nord-Ossetien, seit der Terrorismus sich dort an Kindern verging, in der Schule „Nummer Eins“, Anfang September 2004 in Beslan.
Seinerzeit hatte die russische Regierung spekuliert, auch Osama bin Laden sei im Pankisi, und die Tschetschenen machten dort gemeinsame Sache mit einem Ableger von al Qaida. Moskau beklagte mit wachsendem Zorn, die georgische Administration habe wegen der hohen Kriminalitätsrate und der abgelegenen Lage des Tals längst jede Kontrolle über die Region verloren. Was nicht übertrieben klang, redete man doch damals in Tiflis ganz offen darüber, welcher Minister und welcher Geschäftsmann sich am Drogen- und Waffenschmuggel beteiligte und dadurch bereicherte. Die Grenze zu Tschetschenien und damit zur Russischen Föderation wurde von Einheiten des georgischen Innenministeriums überwacht, einer der korruptesten Abteilungen in der Exekutive von Tiflis.
Zu dieser verdeckten oder offenen Regierungskriminalität gesellten sich um jene Zeit die Operationen tschetschenischer Terroristen, gegen die ebenso wenig getan wurde wie gegen die Armut Tausender Flüchtlinge, die seit Beginn des zweiten Tschetschenien-Krieges im Spätsommer 1999 Zuflucht im Pankisi suchten. Es kamen mehr Hilfesuchende, als das Tal Bewohner hatte – sie darbten mehr, als sie lebten: Großfamilien in einem Zimmer, ohne Verdienst und ohne Aussicht auf Rückkehr in ihre Heimat, versorgt vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR). Natürlich waren die untätigen, allein mich sich beschäftigten jungen Männer anfällig dafür, sich dem bewaffneten Widerstand gegen die russische Präsenz in und um Tschetschenien anzuschließen – und dafür zu sterben.
Doch darüber wächst das Gras des Vergessens. Der Polizeichef von Duisi hat für die Wandlung des Tals vom Saulus zu Paulus eine einfache Erklärung. Er weist auf die nagelneuen Toyota-Geländewagen vor der Tür. „Wir haben endlich eigene Fahrzeuge, und wir erhalten endlich regelmäßig Gehalt. Es ist niemand mehr darauf angewiesen, von Bestechungsgeldern zu leben.“ Tatsächlich gelang es Präsident Michail Saakaschwili, die Korruptionsrate unter seiner Polizei um ein Viertel zu senken, schätzt die ehemalige Gesellschaft für technische Zusammenarbeit, heute GIZ, die in Georgien seit 1996 juristische Reformen unterstützt. Maßgeblich dafür seien eine regelmäßige Bezahlung von Polizisten und Sicherheitskräften sowie die Entlassung von etwa 16.000 Beamten, die mit dem alten System aus der Ära des Staatschef Schewardnadse verbandelt waren.
Eine geläuterte Polizei kontrolliert nun selbst die Grenzen des Pankisi-Tals. Trotzdem reißen Gerüchte über diese unruhige Gegend nicht ab, weil die Kisten Moslems sind, weil neue Moscheen gebaut wurden, und im fast 200 Kilometer entfernten Tiflis mit dem Wahhabismus ein konservativer Islam mehr denn je Fuß gefasst hat. Doch der Polizeichef winkt ab. Das sei alles Quatsch, sicher gebe es eine religiöse Ausrichtung der Bewohner, aber deren Friedfertigkeit sei eben auch über jeden Zweifel erhaben. Und falls noch extremistische Auffassungen anzutreffen seien, dann habe man es lediglich mit einer der Spätfolgen des Tschetschenien-Krieges zu tun. Im Übrigen sei die vorhandene Religiosität unter den jungen Leuten gut für das Tal. „Sie trinken nicht, sie nehmen keine Drogen, sie sind nicht gewalttätig – ihre Werte beziehen sich auf die Familie, die ihnen alles gilt.“
In Trance singen
Seit 2005 bemüht sich die Regierung Saakaschwili um eine Rückführung der Flüchtlinge, wenigstens deren Abwanderung in benachbarte Staaten. Dscharaf Changoschwili, Bürgermeister von Duisi, dem Hauptort im Tal, schätzt, dass noch ungefähr 500 Menschen tschetschenischer Herkunft im Pankisi leben, aber längst integriert seien. „Die Vereinten Nationen haben für sie Holzhäuser gebaut, wir ihnen ein Stück Land gegeben. Sie leben, wie alle anderen.“ Changoschwili kann den Lobpreisungen des Polizeichefs über den Gewinn an Sicherheit im Tal nur beipflichten. „Als die Regierung begann, sich endlich um dieses Gebiet zu kümmern, endete unser Elend. Wir konnten die Vergangenheit hinter uns lassen.“
Auch Hilfsorganisationen haben sich deshalb zurückgezogen. Das UNHCR beendete seine Arbeit im Jahr 2009 und übergab seine Mission an die UN-Entwicklungsorganisation UNDP. Die erstellte für die nach wie vor zu 75 Prozent arbeitslosen und auf eine Subsistenzlandwirtschaft angewiesenen Bewohner des Pankisi-Tals im Vorjahr einen sozialen und ökonomischen Entwicklungsplan. Finanziert werden berufliche Ausbildungen für Viehzüchter, Imker und Schreiner. Seit einigen Monaten fließt auch Geld der japanischen Regierung nach Georgien, gleichfalls für Bildungsprogramme. Mit privaten Spenden wird die Roddy-Scott-Stiftung finanziert, mit deren Hilfe die Jugend von Pankisi Englisch lernt. Roddy Scott war ein britischer Journalist, der ums Leben kam, als der Terroristenführer Ruslan Gelajew im Jahr 2002 erschossen wurde.
Um regionalen Ökotourismus bemüht sich das polnische Außenministerium. Frontfrau einer ambitionierten, weil ökotouristischen Erschließung des Tals ist die 70-jährige Magvala Margoschwili, eine ehemalige Krankenschwester, die schon 1999 die Organisation Marshua Kawkaz (Frieden für den Kaukasus) gründete, um dem Ruf des Pankisi-Tals als verrufenem Hort des Terrors entgegen zu wirken. Margoschwili erweckte einen „weiblichen Sufismus“ mit ihrer Gesangsgruppe Daimoakh (Mutterland) wieder zum Leben. Die Mitglieder singen sich in der Tradition des „Zikr“, der Anbetung, mit Gedichten und Gebeten in Trance. „Wir Kisten gehören zu Georgien, aber unser Herz schlägt in Tschetschenien“, beteuert Margoschwili. „Diese innere Spaltung haben Kriminelle und Kriegstreiber immer genutzt, um mein Volk zu missbrauchen. Wenn wir uns wieder auf unsere Sufi-Traditionen besinnen, dann ist Heilung in unserer Welt und alles andere als ein neuer Wahhabismus.“
Andrea Jeska ist freier Autorin und hat für den Freitag zuletzt aus Ruanda berichtet
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