Afghanistan Als die Bundeswehr abzog, verlor Rahmatullah Esmati seine Arbeit. Nun lebt er mit hunderten von Flüchtlingen in einem Park in Kabul, wo Verzweiflung und Elend herrschen
Als der Außenposten der Bundeswehr, das Feldlager Camp Pamir in der afghanischen Stadt Kundus, im August endgültig geräumt wurde und die letzte deutsche Transportmaschine in den Nachthimmel entschwand, schlief Rahmatullah Esmati. Als er erwachte, wusste er, die Zeit war gekommen, seine Familie zu nehmen und an einen anderen Ort zu ziehen, an dem sich Geld verdienen ließ. Zuvor jedoch band er wie jeden Morgen in den zurückliegenden Jahren sein weiß-schwarz kariertes Tuch um den Kopf, griff nach seinem Eimer, nahm einige Wischtücher und ging an die Arbeit. Vielleicht etwas langsamer als sonst, weil es nicht mehr eilte, putzte er die letzten verbliebenen Fahrzeuge. Er befreite von Staub und Sand, was an Mobiliar zurückgelassen wurde. Er kehrte leere Hal
Hallen. Dann fragte er einen der afghanischen Soldaten, die das Lager übernommen hatten, ob es noch etwas für ihn zu tun gäbe. Der zuckte mit den Schultern und sagte: „Geh nach Hause. Es ist vorbei.“Es stinkt zum HimmelSo sei es gewesen, erzählt Esmati mehr als drei Monate später im Shaw-e-Naw-Park in Kabul. Möglicher Skepsis über seine Geschichte begegnet der 36-Jährige mit dem Herunterrattern seiner Personalnummer aus der Zeit in Kundus und einem freimütigen Blick. Durch die Menge der Menschen, von denen die Reporterin umlagert wird, weil sie von ihren Nöten erfahren soll, auch von der Wut, mit der sie ihre Sorgen hinausschreien, hatte er sich durchgedrängt. Ein Hüne mit leuchtend blauen Augen und breiten Schultern, so stand er plötzlich da und sagte auf deutsch: „Guten Tag. Wie geht es Ihnen?“Der Shaw-e-Naw-Park, einst eine grüne Oase in der Hauptstadt, ist inzwischen ein riesiges provisorisches Flüchtlingscamp. Zehntausende sind aus den Provinzen vor den letzten Kämpfen im Juli und August, vor dem unaufhaltsamen Vormarsch der Taliban hierhergeflohen, weil sie in Kabul am ehesten mit dem Beistand durch Hilfsorganisationen rechneten. Nur unterblieb, was sie erwartet hatten. Seit die Taliban die Stadt am 15. August übernahmen, wurde die humanitäre Hilfe für Afghanistan fast eingefroren, gibt es Decken, Lebensmittel, Medikamente oder Hygieneartikel nur sporadisch. Die Hoffnungen der Binnenflüchtlinge sind tiefster Verzweiflung gewichen. Der Park ist heute eine Müllhalde, das Gras niedergetreten und vertrocknet. Tüten, weggeworfene Schuhe, Essensreste und Exkremente liegen weit verstreut. Es stinkt wahrlich zum Himmel. Die zwei provisorischen Toiletten für Hunderte von Menschen, die es hierherverschlagen hat, sind verstopft. Wem es nicht gelungen ist, eines der verteilten Zelte zu ergattern, hat sich aus Schildern, Ästen und Tüchern einen Unterstand gebaut.Der Grund, weshalb der Putzmann der Deutschen hier landete, ist schnell genannt: Er fand keine Arbeit mehr. Schätzungsweise 70 Prozent aller Afghanen sind derzeit ohne Auskommen. Was sich nationale Ökonomie nennt, gibt es nicht. Viele werden diesen Winter hungern und frieren. Oder verhungern und erfrieren? Schon jetzt nehmen die Kliniken unterernährte Kinder auf, und wer durch das Land reist, hört Geschichten von Eltern, die ihre Töchter verkaufen oder schnellstens zwangsverheiraten, vom Anstieg der Lebensmittelpreise um die Hälfte, von Angst vor den kommenden Monaten, in denen das Land in Kälte zu erstarren droht.Rahmatullah Esmati ist es gelungen, für seine Frau, für die fünf Söhne und zwei Töchter ein Zelt zu ergattern, gerade einmal groß genug, damit darin zwei erwachsene Menschen liegen können. Er ließe die Frau und die Kinder schlafen, sagt er. Währenddessen wandere er umher oder lege sich nachts auf eine der Parkbänke, falls eine frei sei. Das jüngste seiner Kinder ist gerade einmal sechs Monate, die älteste Tochter 13 Jahre alt. Wie das für alle Kinder im Shaw-e-Naw-Park eine traurige Tatsache ist, geht auch aus Esmatis Familie niemand zur Schule. „Wir haben kein Geld für Schulsachen, und wir können in keinem der öffentlichen Baderäume duschen gehen – zu teuer. Unsere Kinder sind dreckig und verlaust, sie würden ohnehin wieder nach Hause geschickt.“ Doch das sind nicht die einzigen Gründe. In ihrem Elend schicken die Menschen ihre Kinder auf die Straßen, wo sie sich zwischen dem dichten Verkehr durchschlängeln und an jedes Fenster eines stehenden Autos klopfen.Bis hin zu VergewaltigungenDie Zahl der Bettler in Kabul ist in den vergangenen Monaten drastisch gestiegen, die Kinder unter ihnen sind jünger denn je. Wer nicht betteln will, durchsucht die Müllkippen, um Verwertbares und Wiederverkäufliches zu finden. „Das ist sehr gefährlich“, meint Esmati. „Aber wenn man Hunger hat …“ – Von einst Tausenden von Flüchtlingen im Park sind Anfang November nur noch ein paar Hundert übrig, die anderen wurden, unter anderem vom „Afghanischen Frauenverein“ in Deutschland, mit Geld versorgt, um wieder in ihre Dörfer zurückkehren zu können. Jene, die jetzt noch da sind und die inzwischen kalten Nächte ertragen, hoffen auf das Versprechen der Taliban, dass ihnen in Kabul Unterkünfte zur Verfügung gestellt werden. Sie bleiben wegen dieser Hoffnung – oder weil sie nicht zurück können. Viele Witwen sind darunter, deren Männer im Krieg oder auf der Flucht hierher gestorben sind. Sie beklagen, schutzlos und mittellos zu sein, der Erniedrigung ausgeliefert wollen sie nicht wieder in ihre Dörfer gehen. Das Lamento der Elendsgeschichten, die an jeden Besucher in diesem Park herangetragen werden, beginnt beim verlorenen Obdach, streift den ewigen Hunger und endet bei Vergewaltigungen.Wie es für ihn weitergehen wird, weiß Esmati nicht. Dass die Deutschen so sang- und klanglos abgezogen sind, verübelt er ihnen nicht, sie seien, sagt er, immer nett zu ihm gewesen. Was ihm fehle, sei seine Arbeit. „Ich mag es, wenn alles wieder sauber ist.“ Das Gespräch beschließt ein herzliches „Tschüss“. Das „ü“ zieht er dabei so lang, als sei er aus dem deutschen Norden.Placeholder authorbio-1