„Sie werden erfrieren“

Bosnien Das Rote Kreuz in Bihać warnt vor großer Not. Tausende Flüchtlinge sind dem herannahenden Winter fast schutzlos ausgeliefert
Ausgabe 47/2019
Die Toilettencontainer im Camp sind so verdreckt, dass die Bewohner lieber in den Wald gehen
Die Toilettencontainer im Camp sind so verdreckt, dass die Bewohner lieber in den Wald gehen

Foto: Armin Durgut/Pixsell/Imago Images

Ob das zutreffe, fragt Hussein, ein 23-jähriger Flüchtling aus dem Irak. „Die geben uns kein Essen mehr? Was sollen wir dann tun?“ Da ist Panik in seinem Gesicht, seine Augen betteln um eine beruhigende Antwort. Für ein paar Stunden ging im Flüchtlingslager Vučjak in der Nähe der bosnischen Stadt Bihać das Gerücht um, das Rote Kreuz werde die gut 700 Flüchtlinge in diesem Camp nicht mehr versorgen. Ein Gerücht, das nicht der Wahrheit entsprach, denn die Helfer aus der Region stellten ihre Arbeit in Vučjak nicht ein, wie das Husein Klicić, Präsident des RC Bihać, zunächst kundgetan hatte. Es hieß, mit Einbruch des Winters sehe sich seine Organisation nicht mehr in der Lage, das Überleben der Flüchtlinge und die Sicherheit der Mitarbeiter zu garantieren. „Wir wollen die Verantwortung für eine humanitäre Katastrophe nicht übernehmen. Wenn die Menschen in Vučjak bleiben, werden sie erfrieren. Die Regierung muss nun eine Lösung finden.“

Mülldeponie, Minenfeld

Diese Worte fielen in eine Zeit, da die Zukunft der Flüchtlinge im Kanton Una-Sana so unsicher schien, dass es die Menschen in Verzweiflung stürzte. Auch die von der Internationalen Organisation für Migration (IOM) betriebenen Lager Miral in der Nähe der Stadt Velika sowie Bira in Bihać standen Anfang November kurz davor, geschlossen zu werden. Zu diesem Zeitpunkt lebten in Bihać 2.000, in Mira 800 Flüchtlinge. Zusammen mit denen aus Vučjak und Hunderten, die in Ruinen oder Parks ausharren, wären dann schätzungsweise 4.000 Menschen dem hereinbrechenden Winter ausgeliefert gewesen.

Vučjak wurde 2018 gegen internationalen Protest auf einer Mülldeponie am Rande des gleichnamigen Dorfes errichtet, 15 Kilometer von Bihać entfernt. Die Stadt begründete die Entscheidung seinerzeit damit, dass sich die 40.000 Bewohner nicht mehr sicher fühlten angesichts der zumeist jungen Männer, die auf der Straße und in Parks schliefen, sich wuschen – die Müll und Fäkalien hinterließen. Daher sei die einstige Mülldeponie der allein mögliche Standort. Seither werden Migranten, die sich auf den Straßen von Bihać aufhalten, von der Polizei eingesammelt, nach Vučjak gebracht und dort zwischen flatternden Zelten und einem Waldgürtel ausgesetzt, in dem noch Landminen aus der Zeit des Bosnien-Krieges liegen.

Wegen dieser Sprengkörper wie des mit Methan verseuchten Bodens weigerten sich internationale Hilfsorganisationen, in Vučjak tätig zu werden. Das hat zu Umständen geführt, die man nur als Albtraum bezeichnen kann. Die übervollen Zelte sind im Moment feucht vom Regen und riechen nach Schimmel. Überall sammelt sich Unrat, die Wege sind schlammig. Die Wassertanks werden von der Stadtregierung befüllt, die auch den Müll abholt, es gibt einen Generator zum Aufladen der Mobiltelefone, dazu vier Dusch- und Toilettencontainer, die so verdreckt sind, dass die Bewohner lieber in den Wald gehen. Fast jeder dort – die meisten in Vučjak sind aus Pakistan und Afghanistan – hat Krätze, Flöhe oder eitrige Wunden.

Lediglich das Rote Kreuz von Una-Sana hat bis zuletzt geholfen, mit zwei Mahlzeiten täglich und der Ausgabe von Decken und Schlafsäcken sowie medizinischer Erstversorgung. „Aus Menschlichkeit“, wie Regionalkoordinator Selam Midžić sagt. Doch die Möglichkeiten waren von Anfang an beschränkt, stützten sich auf Spenden der Bevölkerung und die Arbeit von Ehrenamtlichen. Die Entscheidung, Vučjak eventuell aufzugeben, sei auch deshalb herangereift, weil seine Mitarbeiter am Ende ihrer Kräfte waren, so Midžić. „Sie haben es dort mit Hunderten von jungen Männern zu tun, die zum Teil schwer traumatisiert sind. Täglich gibt es Kämpfe und Streit, aber keine Polizeipräsenz, um unsere Leute zu beschützen.“

Als Bosnien – nach Schließung der serbisch-ungarischen Grenze vor gut 18 Monaten – neue Durchgangsstation auf dem Weg nach Europa wurde, war die Solidarität unter den Bewohnern zunächst groß (der Freitag 46/2018). Es gab noch keine Camps und die Flüchtlinge fanden viel private Hilfe, vor allem von Bosniaken, die selber Krieg und Vertreibung erlebt hatten. Man glaubte, es handle sich um eine temporäre Situation, nur riss der Strom jener nicht ab, die über Kroatien in die EU wollten. Mehr als 30.000 Menschen haben schätzungsweise das kleine Balkanland durchquert. Als es im Kanton Una-Sana zu Zusammenstößen zwischen Polizei und Flüchtlingen kam, zu Einbrüchen in leer stehende Häuser und zu Viehdiebstahl, schwand die Hilfsbereitschaft und wich dem Gefühl, überfordert zu sein.

Die Regierung lasse seine Stadt im Stich, klagt Šuhret Fazlić, der Bürgermeister von Bihać, der Vučjak errichten ließ. Tatsächlich ist die Präsenz der Flüchtlinge hoch, ebenso die der Polizei. Weil das Camp Bira direkt in der Stadt liegt, gibt es seit Wochen Demonstrationen von Bewohnern, die eine Schließung verlangen. Jeden Tag steht vor dem Lager eine Schlange von Flüchtlingen, die auf Aufnahme hoffen und abgewiesen werden. Wem das widerfährt, der sucht Schutz in tristen Ruinen, in denen kein Überwintern möglich ist.

Barfuß zurück

Dass die bosnische Regierung trotz internationalen Drucks bislang keine alternativen Standorte bestimmt hat, liegt an der Angst, unpopuläre Entscheidungen zu treffen, die Wählerstimmen kosten, aber auch an der föderalistischen Struktur. „Keiner übernimmt Verantwortung. Jeder fühlt sich zunächst seiner Partei oder seinem Clan verpflichtet. Probleme werden nicht gelöst, sondern von einem zum anderen weitergegeben“, meint Peter Van der Auweraert, Koordinator der IOM in Bosnien. „Wir verhandeln seit Januar, weil absehbar war, jetzt überfordert zu sein.“ Es sei jedoch nicht gelungen, alle involvierten Parteien zu einer gemeinsamen Strategie zu bewegen. „Uns läuft die Zeit davon, das ist allen klar. Wir hoffen, dass unsere Camps über den gesamten Winter hinweg geöffnet bleiben. Für jede andere Lösung ist es zu spät. Einen Plan B, das muss man klar sagen, haben wir nicht.“ Die Entscheidung des Roten Kreuzes, die Versorgung für Vučjak zu verlängern, beruhigt ihn. „Wären dessen Teams dort gar nicht tätig, dann wären diese Camps ohne Zelte, ohne Wasser und Verpflegung, also bald kollabiert. Und man hätte sich dem stellen müssen. Wenn man sich darauf einlässt, Flüchtlingen ein Refugium zu geben, muss man durchhalten.“

Laut Schätzungen des bosnischen Roten Kreuzes sind in den vergangenen Monaten rund 2.500 junge Männer ins Camp Vučjak gebracht worden. Dahinter beginnt die dicht bewaldete Plješevica-Gebirgskette, die Bosnien von Kroatien trennt. Weil in diesen Wäldern die Polizeipräsenz groß ist, nehmen viele Flüchtlinge die Route, die auf einer Karte im Camp als von Landminen verseuchte Strecke eingezeichnet ist. „Wenn du verzweifelt bist, gehst du jedes Risiko ein“, sagt Hussein. Er ist seit August in Vučjak und hat seither ein Dutzend Mal versucht, von dort zu entkommen. „Viermal haben sie mich hinter der Grenze erwischt. Die kroatische Polizei nimmt uns die Kleidung weg, ebenso Schuhe und Schlafsäcke, die vor unseren Augen verbrannt werden. Dann müssen wir barfuß zurück. Einmal hat mich die Polizei in Bihać von der Straße geholt und wieder ins Lager gebracht. Kein Mensch kann so leben, wie wir es hier tun.“

Ein Sturm und heftige Regenfälle haben in Vučjak bereits spüren lassen, was passiert, wenn der Winter unwiderruflich begonnen hat. Die Zelte haben den eisigen Schauern kaum standgehalten, Wasser lief hinein, an vielen Stellen wurden sie aus ihren Verankerungen gerissen. Im steten Regen erwies es sich als unmöglich, die Schlafsäcke zu trocknen. Also hüllten sich die Flüchtlinge gegen den Wind notgedrungen in feuchte Decken – die Stimmung blieb angespannt. „Ich will hier nur noch raus“, sagt Hussein. Seit über einer Stunde steht er durchnässt in der Schlange vor dem Essenszelt, wo es zum Frühstück zwei Scheiben Brot und einen Klecks Frischkäse gibt. Die Umstehenden stimmen ihm zu. Sie hielten es nicht mehr aus. Wenn sie hier eines Tages nicht mehr versorgt würden, wohin sollten sie dann?

„Das wird Europa doch nicht zulassen“, glaubt Hussein hoffnungsvoll. Die bosnische Regierung, so IOM-Koordinator Van der Auweraert, habe erwogen, den Flüchtlingen im Winter zusätzlich eine leer geräumte Kaserne in Sarajevo zu überlassen. Man gehe davon aus, dass sich dort die kalten, verzehrenden Monate überstehen ließen. Was aber, wenn das Frühjahr kommt und alle wieder Richtung kroatische Grenze wandern? Van der Auweraert zuckt müde mit den Schultern. „Mehr, als immer wieder eine langfristige Lösung zu fordern, können wir nicht. Eines ist sicher: Die Flüchtlinge werden weiter durch Bosnien ziehen.“

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