Und dann war ich wieder draußen

Ruanda Im Gefängnis von Mpanga verbüßt André Kimonyo eine lebenslange Haftstrafe. Schon möglich, dass er von seinen Richtern zu Unrecht verurteilt wurde

Staubig ist der Weg, den man nach einer Kreuzung in Nyanza, der ehemaligen Königsstadt Ruandas, nehmen muss. An seinem Ende liegt Golgatha. Eine lange Mauer, auf deren First Stacheldraht gezogen ist, läuft auf ein eisernes Tor zu. Gareza Mpanga – Gefängnis von Mpanga – steht darauf. Davor haben ein Dutzend Frauen in der orangefarbenen Bekleidung der Verurteilten bescheidene Stände aufgebaut: Mangold, Mais, Nüsse. Alt und vertrocknet sind ihre Gesichter. Ich versuche, eine mörderische Physiognomie zu bestimmen, um entscheiden zu können, ob jener Mann, den ich hier treffen will, nicht doch zu ihnen gehören könnte. In den Blicken, die mich treffen, sehe ich nur Dumpfheit, Gleichmut und Resignation.

Am Tor ist der Pass abzugeben und der mitgebrachte Brief als Legitimation vorzeigen. Darin steht, man solle mir einen Besuch bei dem Gefangenen André Kimonyo ermöglichen. Gezeichnet Martin Ngoga, Generalstaatsanwalt der Republik Ruanda.

Einen Vormittag lang hatte ich in Kigali in Ngogas Büro gesessen und über das Wann und Wie meines Besuches verhandelt. Der Jurist hatte das Ansinnen prinzipiell bejaht und gefragt, ob ich wisse, warum dieser Mann einsitze. Er sei für schuldig befunden worden, am 11. April 1994 gegen zwölf Uhr mittags ein schwer verletztes 13-jähriges Tutsimädchen lebendig begraben zu haben. Ob ich den Täter interviewen wolle. Nein, hatte ich erklärt. Er sei ein Freund. Ein unschuldiger Freund. Letzteres hatte ich mit Trotz vorgebracht. Ich verfügte für diese Behauptung über keinerlei Beweise. Doch ich wollte den Hahn nicht Verrat krähen hören.

Tatsächlich kenne ich Kimonyo kaum. Ich habe ganze sieben Tage mit ihm verbracht. Berechtigt mich das, seine von einem Gericht erkannte Schuld zu ignorieren? Stelle ich persönliche Sympathien über meine Urteilskraft? Vor drei Jahren brauchte ich auf einer Ruanda-Reise einen Fahrer. Ich wollte nach Nyamata – an einen Ort, an dem der Schrecken des ruandischen Genozids vom Frühjahr 1994 bewahrt wird. Tausende wurden in der örtlichen Kirche ermordet, niemand kann dort heute mehr beten. Höchstens aus Entsetzen darüber, was geschehen ist.

André Kimonyo arbeitete 2008 für eine deutsche Investment-Gesellschaft, die ihn mir „borgte“. Für einen, der „von den Hügeln“ komme wie er, in einem ärmlichen Dorf aufgewachsen und der einzige aus seiner Familie sei, der die Schule beendete, habe er es weit gebracht, meinte er selbst.

André hatte große, offene Augen, eine bescheidene Art und eine natürliche Freundlichkeit. Schnell waren wir vertraut, auf jene Art, die entsteht, wenn man das Gefühl hat, sich schon lange zu kennen. Wir sprachen über Erziehung, Werte und darüber, wie Kinder zu schnell groß werden. Ob er oft in sein Heimatdorf zurückkehre, wollte ich von ihm wissen, und er antwortete mir: Selten. Man neide ihm unter den Seinen das jetzige Leben. Die anderen im Dorf seien ohne Perspektiven.

Ein gläserner Sarg

Damals, auf jener Reise, lernte ich viel über Gacaca, jene traditionelle Rechtsprechung, die Ruanda wiedereingeführt hatte, um die Scharen von Völkermördern anklagen zu können. André und ich besuchten eine Verhandlung, er dolmetschte, berichtete, erklärte. Es gehe nicht nur um angemessene Strafe, sondern auch darum, wie die Menschen wieder gemeinsam leben könnten, meinte er. Deshalb könnten geständige Täter, die zur Aufklärung von Verbrechen beitragen und zu 1994 verscharrten Leichen führen würden, mit Strafmilderung rechnen.

Was sagen mir diese Erläuterungen? Eigentlich müsste ich schreiben: Ich kenne André Kimonyo kaum. Ich bin nie in seinem Haus gewesen, ich habe nie an seinem Tisch gegessen. Aber ich kenne ihn. Man kennt einen Menschen, wenn man gemeinsam an einem gläsernen Sarg steht, in dem eine Frau liegt. So war es in der Gruft der Kirche von Nyamata. All die anderen Toten dort waren nur noch Gebeine, aufgereiht in Regalen oder unter einer großen weißen Marmorplatte begraben. Warum gibt es für diese eine Frau einen Sarg? Kimonyo: „Sie starb, weil man ihr einen Stock durch die Vagina rammte; sie liegt hier stellvertretend für alle, deren Leiden maßlos war.“ Das Entsetzen in meinen Augen spiegelte sich in seinen. Später nahmen wir das Gästebuch. „Möge Gott verzeihen“, schrieb André.

„Wem soll er das verzeihen?“, fragte ich ihn. „Euch Hutu?“ – Nein, uns Menschen, die wir zu so etwas fähig sind.“

Danach ist er mit mir kreuz und quer durch das Land gefahren. „Schau mal, wie schön. Das ist Ruanda.“ Er hat meinen Notizblock gehalten, wenn ich mit der Kamera zu tun hatte, er hat aufgesammelt, was ich mit meinem ewig wirren Kopf liegen ließ. Manchmal haben wir einfach nur gescherzt und hielten zusammen Picknick, irgendwo unterwegs. Er brachte mir ein paar Worte Kinyarwanda bei und sein kehliges Amakuru? (Wie geht es dir?) hatte ich noch lange im Ohr.

Die Mutter bat darum

Ich wusste von den Vorwürfen gegen ihn. Ich habe lange gebraucht, bis ich alles verstand. Zu kompliziert sind die Verwebungen und Verstrickungen, die es in einem ruandischen Dorf und in einer ruandischen Familie geben kann.

Schließlich war aus seinen Erzählungen ein Film in meinem Kopf entstanden. Wie er sich im April 1994 aufmachte in sein Heimatdorf, um nach den Eltern zu sehen. In seinem Pass war damals ein „H“ für „Hutu“ gestempelt, das brachte ihn durch viele Straßensperren, die schon überall errichtet waren. Dann kamen die Interahamwe, die Todesschwadronen der Hutu, um die Bewohner seines Ortes zusammen zu treiben, Hutu und Tutsi zu trennen und die Hutu aufzufordern, ihre Nachbarn aus dem anderen Volk umzubringen. Ich stellte mir vor, wie André und die anderen dann verhandelten und ein Überlebenspfand anboten. Wie er zurücklief, um Bargeld zu holen und wiederkam. Da war das Morden schon vorbei, und die Toten lagen am Boden. Unter ihnen das verletzte Mädchen, Tochter eines getöteten Tutsi-Vaters und einer Hutu-Mutter. Die bat händeringend, einer der Männer möge ihre Tochter umbringen. Aus Angst vor den Hutu-Milizionären wolle sie das Kind nicht mehr mit ins Haus nehmen. André und die anderen Männer gingen fort, weil überall Tote zu bestatten waren. Als sie wieder ins Dorf kamen, war das Mädchen verschwunden – lebendig begraben von seiner Mutter.

Wie gesagt, ich kenne André Kimonyo kaum. Die Geschichte könnte auch ganz anders gewesen sein. Damals, als er sie mir erzählte, fügte er hinzu, die Richter seien von seiner Unschuld überzeugt, denn die Zeugen hätten sich in Widersprüche verwickelt. Er sagte auch, Gacaca sei als Rechtsprechung ein Chaos, da viele Menschen eingeschüchtert würden. Man drohe ihnen, sie gegebenenfalls der Mittäterschaft zu bezichtigen. Damals kam ich nicht einmal auf die Idee, Kimonyo könne getan haben, was man ihm vorwarf.

Nach seine Festnahme hörte ich zunächst, er sei freigesprochen worden. Aber dann erhielt ich die Nachricht, André habe noch einmal vor einem Gericht erscheinen müssen. Eine Formalität, wie es hieß. Er wollte am späten Nachmittag wieder im Büro sein und seine Arbeit erledigen. Er kam nicht zurück, wurde im Gerichtssaal verhaftet und bald darauf zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt.

Als ich das nächste Mal nach Ruanda flog, bat ich Generalstaatsanwalt Martin Ngoga, die Akte zu prüfen. Er las sich durch Andrés Fall. Er könne nur sagen, es seien keine Verfahrensfehler gemacht worden. Es sei möglich, dass einer zu Unrecht verurteilt werde. „Tragisch“, sagte Ngoga, doch wenn ich wüsste, unter welchem Trauma viele der Überlebenden zu leiden hätten, dann würde sich mein Mitleid mit Kimonyo in Grenzen halten. Ich entgegnete ihm, ich könne mein Mitleid doch nicht am Äußersten messen, und bekam zu hören: „Wenn Sie in Ruanda leben würden, wenn Sie eine Überlebende wären – was dann?“

Als ich endlich die Erlaubnis zum Gefängnisbesuch in den Händen hielt, befielen mich Zweifel. Ich hatte überall im Land gesehen, welches Grauen die Mörder hinterlassen hatten. Ich hatte Überlebende interviewt, die nur noch wandelnde Tote waren. Was, wenn er doch einer der Täter ist? Er wusste nichts von meinem Kommen. Es gab kein Telefon für die Häftlinge.

Im Gefängnis von Mpanga musste ich beim Direktor vorsprechen. Wir plauderten ein wenig, ich lobte das Gefängnis, es sei ziemlich neu, der Komplex großzügig angelegt – es gäbe Wege zwischen Blumenbeeten. „Ihren Freund hätte es schlimmer treffen können“, hörte ich.

Im Arrest

Endlich wurde ich in den Versammlungsraum der Anstalt gebracht. Eine Wärterin war unterwegs, André zu holen. Er sah mich an, als hätte er auf mich gewartet. Seine Freude und sein Strahlen schienen so groß, dass die Wärterin lächelte, und auch der Gefängnisdirektor lächelte. Obwohl es erst hieß, er dürfe nur in der Landessprache Kinyarwanda sprechen und jemand müsse übersetzen, erhielten wir jetzt die Erlaubnis, miteinander Englisch zu reden. Er war entspannt und meinte, er werde gut behandelt. Er vermisse seine Familie, mache sich Sorgen, wie sie ohne Geld lebe. Seine Söhne hätten die Schule verlassen müssen. „Viele hier im Gefängnis behaupten, sie seien unschuldig. Warum sollte ausgerechnet mir jemand glauben?“ Er sagte es ohne Bitterkeit.

Andrés Revisionsverhandlung wegen der 25 Jahre war mit einer Katastrophe zu Ende gegangen. Er solle gestehen, wurde ihm gesagt, dann sei ihm Milde gewiss. Als er erklärte, nicht gestehen zu können, was er nicht getan habe, meinten die Richter: „Sie sind ein verstockter Mörder“ und wandelten seine 25 Jahre in lebenslänglich um. „Ich weiß nicht, was passiert ist, dass die Stimmung so kippte.“ Er schaute mich an, als sollte ich eine Antwort wissen.

Als der Direktor den Besuch beendete, brachte mich André zum Tor. Er fragte nicht, ob ich wiederkäme. Er wusste wohl, ein weiterer Besuch würde kaum möglich sein. Ein Dank, eine Umarmung, die leise Bitte, nach seiner Familie zu sehen. Ich weinte, er lächelte tröstend, winkte mir nach. Und dann war ich wieder draußen.

Andrea Jeska hat für den Freitag in Verbindung mit der juristischen Aufarbeitung des Genozids schon über andere Fälle geschrieben

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