Im Jahr 2020 hatte die US-Regierung angekündigt, ihre Truppen aus Afghanistan abzuziehen, und führte Verhandlungen mit den Taliban. Die gebildeten urbanen Ober- und Mittelschichtlerinnen in Kabul und anderen Städten waren besorgt, wenn nicht entsetzt. Sie sahen in den Deals, die amerikanische Diplomaten mit den Taliban schließen wollten – unter Ausschluss der afghanischen Regierung und der Afghanen selbst – die Legitimierung einer Organisation, die bereits in den 1980er Jahren bewiesen hatte, dass sie Frauenrecht mit Füßen tritt. Die Angst, die Taliban könnten erneut Macht bekommen, war groß.
Doch ebenso groß war der Wille, dem Widerstand entgegenzusetzen. „Wir sind nicht mehr die Frauen von damals“, war ein Satz, der in fast jedem Gespräch fiel. Politikerinnen, Journalistinnen, Künstlerinnen, Yogalehrerinnen, Geschäftsfrauen sagten ihn. „Wir kennen heute unsere Rechte, und wir lassen sie uns nicht nehmen“, hieß es. „Die Taliban werden uns nicht wieder unter die Burka zwingen.“
Die Kabuler Journalistin und Aktivistin Farahnaz Forotan hatte in jenem Jahr, finanziert von den Vereinten Nationen und US-Stiftungen, eine Videokampagne gestartet, die sie „my red line“ nannte. Sie interviewte Frauen – später ebenso Männer – in Städten, auch der Provinz, um sie zu fragen, wo ihre „rote Linie“ sei. Was würden sie sich nicht nehmen lassen, sollte wieder ein Zeitalter der Unterdrückung anbrechen. Die meisten Befragten sagten: Bildung, Arbeit, Freiheit, wirtschaftliche und politische Partizipation. Die Frauen auf dem Land erklärten: keine neue Gewalt. Kein Hergeben der Söhne. Kein Hunger. Keine Diskriminierung ihrer Töchter.
Im Januar 2022 sind die Wortführerinnen derer, die im Westen als eine neue Generation von selbstbestimmten Frauen gesehen wurden, größtenteils nicht mehr in Afghanistan. Sie wurden evakuiert. Wer tauglich genug war, den Beweis zu liefern, dass die Besatzungszeit in Afghanistan auch zum Besten der Frauen war, hatte Visa oder eine doppelte Staatsbürgerschaft. Oder man war zumindest bestens vernetzt.
Längst in den USA
Forotan lebt heute in den USA. Sie ist eine von denen, deren Namen immer wieder genannt wurden, wenn die westlichen Medien nach Heldinnen suchten, die zeigten, dass die zuvor unterdrückte afghanische Frau dank der westlichen Hilfe, der militärischen und finanziellen, nun „empowered“ war – mit Macht und Stärke ausgestattet. Auch die feministischen Politikerinnen Shukria Barakzai und Fausia Kufi, die Journalistinnen von Tolo News, die Aktivistinnen der vielen Frauenorganisationen, von denen manche auch bloß ein Organisatiönchen waren – viele von ihnen sind in London, New York, Tirana, Doha oder Berlin. Ihre Geschichten waren der Stoff, aus dem sich vor den Taliban die Befreiungsmythen weben ließen. Jetzt werden sie weiterhin zitiert und porträtiert, wenn es darum geht, die weibliche Stimme des geschundenen, verratenen Afghanistans zu hören, selbst wenn diese nur aus dem Off kommt.
Gerettet, womöglich tatsächlich vor dem Tod oder dem Verschwinden in Gefängnissen, sind alle jene, die für den Westen sichtbar waren.
Zurückgeblieben sind die Millionen, denen diese Sichtbarkeit verwehrt blieb – die nicht so urbanen, nicht so begüterten, nicht so gebildeten Frauen. Vielleicht ist nicht ihr Leben, aber ganz sicher ihre Zukunft in Gefahr. Erst wurden ihnen die Sicherheiten und Hoffnungen, die Träume und Freiheiten genommen, dann fielen sie in den Abgrund der finanziellen Not, weil sie nicht mehr arbeiten dürfen und das Land der Taliban nun ohne westliche Unterstützung pleite, hungrig, kalt und grau ist. Es sind jene, die für keine Hilfsorganisation, kein fremdes Militär, keine ausländische Zeitung arbeiteten, die von keiner Stiftung gefördert wurden und die deshalb auf keiner Evakuierungsliste stehen und niemals stehen werden.
Ihnen bleibt nur die Kooperation, das Verstecken, das Schweigen oder Schwüre von Wehrhaftigkeit zu erfüllen, die die Evakuierten gebrochen haben. Deshalb – auch weil sie hoffen, ihr Widerstand bringe ihnen doch noch genug Aufmerksamkeit, um ebenfalls gerettet zu werden – sind Hunderte von jungen Frauen im Verborgenen als Aktivistinnen tätig. Sie treffen sich in geheimen Räumen, weil sie nicht mehr öffentlich protestieren dürfen, und formulieren dort ihre Ziele. Sie schießen Fotos für die sozialen Medien, die einzige Form der Meinungsäußerung, die ihnen geblieben ist. Sie flehen um den Beistand des Westens. Sie bitten um die Solidarität „ihrer Schwestern“ in allen Ländern. Um ein Wunder, das ihnen ihr altes Leben zurückbringt. Doch je weiter der Winter und die finanzielle Not voranschreiten, desto existenzieller werden ihre Wünsche. Längst sind sie fern des humanistischen Katalogs der Rechte, den die westlichen Vorturnerinnen ihnen aufstellten. Was sie wollen, sind Arbeit, Bildung, Brot.
Und dann gibt es noch die anderen, die in den Medien nur als anonyme Masse auftauchen, die das Wort „Empowerment“ nicht kennen. Und die wohl auch wenig anfangen könnten mit dem Freiheitsbegriff, den der Westen nach Afghanistan brachte. Es sind die Frauen auf dem Land, die in Bergtälern gefühlte Lichtjahre von Kabul entfernt leben. Schon in den vergangenen zwanzig Jahren, in denen der „Krieg gegen den Terror“ auch ein Befreiungskampf für das afghanische Volk sein sollte, partizipierten sie nur am Rande.
Vielleicht brachten ihnen Hilfsorganisationen Nahrung und Kleidung, warme Decken und Baumaterial. Vielleicht baute man eine Schule und eine Klinik, vielleicht wurden ihre Kinder alphabetisiert, vielleicht starben ein paar hundert Frauen weniger bei der Geburt. Doch das änderte kaum etwas an ihrer Armut und Abgeschiedenheit, schützte sie nicht vor den Bomben und Drohnen des Krieges, vor dem Hunger, der mit den jahrelangen Dürren kam. Und wenn sie schließlich verzweifelt in die Hauptstadt flohen, lebten sie weiter in bitterer Armut und schickten ihre Kinder zum Betteln oder Müllsammeln auf die Straße. Niemand ging und interviewte sie für einen Artikel über afghanische Powerfrauen.
Jetzt, da man in Afghanistan keine Erfolgs-, sondern Elendsmeldungen sucht, wird davon erzählt, dass diese Frauen ihre Organe oder eines ihrer Kinder verkaufen, damit die anderen nicht an Hunger sterben. Davon, wie viel Kraft, Mut und Überlebenswillen es braucht, um ein solches Dasein auszuhalten, wie sehr diese Frauen kämpften und kämpfen für ihr Recht auf Gewaltlosigkeit, ein Stück Land, ein wenig Mitbestimmung im dörflichen Leben, eine bessere Zukunft für ihre Kinder, von diesen beispielhaften Akten der Courage und Selbstbestimmung erzählt noch immer niemand.
Kommentare 7
Eines noch: Auch wenn der Wertewestwn den Krieg gegen die Taliban verloren hat, so darf das kein Grund sein das afghanische Vilk jetzt verhungern zu lassen.
Ach was, die Karawane zieht weiter. Der Wertewesten befreit jetzt die Ukraine. Man muss Prioritäten setzen. Afganistan? Vielleicht später mal wieder ... Burisma Holdings & Co sind gerade viel spannender.
++ Doch das änderte kaum etwas an ihrer Armut und Abgeschiedenheit, schützte sie nicht vor den Bomben und Drohnen des Krieges, vor dem Hunger, der mit den jahrelangen Dürren kam. Und wenn sie schließlich verzweifelt in die Hauptstadt flohen, lebten sie weiter in bitterer Armut und schickten ihre Kinder zum Betteln oder Müllsammeln auf die Straße. Niemand ging und interviewte sie für einen Artikel über afghanische Powerfrauen. ++
Gab es da wirklich überhaupt keine Hilfen? Reportagen darüber gab es. Auch über Frauen in Armut.
Die Lage der Frauen in Afghanistan - und zwar durch alle Bevölkerungsschichten hindurch - zu verbessern, das ist sicherlich eine Aufgabe, die von außen allein gar nicht zu lösen ist. Und schon gar nicht während des Konfliktes und der Kämpfe dort.
Deshalb wundert es mich nicht, dass die urbanen Bildungsbürgerinnen interessant waren für die Mächte, die von außen auf das Land einwirkten. Wie anders hätten sie denn Kommunikatorinnen finden sollen? Ich weiß nicht, wie es zur Zeit der sowjetischen Besatzung in dem Land war. Die haben schlicht und schnell die Burka verboten und sich damit auch Feinde und Feindinnen gemacht. Als die Sowjetsoldaten aus Afghanistan abgezogen sind, haben sie sicherlich auch eine Menge politisches Personal mitgenommen. Wäre interessant, zu untersuchen, wie das damals abgelaufen ist.
Die prominenten Worführerinnen also sind nicht mehr in Afghanistan. Sie können und müssen trotzdem eine Brücke sein zu denen, die vor Ort sind.
Kürzlich gab es ein Handyvideo von einer jungen Frau in Afghanistan, die unter Tränen und Angst berichtet, dass sie gleich verhaftet wird und man hört die Schläge gegen ihre Tür. Dieses Video wird verbreitet, die Frauen im Exil halten die Verbindung.
Ins Exil sind immer schon die Gebildeten, die Künstler und politisch verfolgten Aktvist:innen gegangen. Und immer müssen sie sich dem Vorwurf aussetzen, sie hätten ihr Volk im Stich gelassen.
Eines ist schon wahr: Der "Westen" hat sie alle im Stich gelassen. Die Analysen und Warnungen waren alarmierend, lange bevor die Taliban siegten.
Hoffentlich verdrängen die wohlhabenden Exilierten bald die hiesigen Armen in den Städten- dann wäre klar: es ist Klassenkampf. Ich glaube, dass die ganzen Hilfsgelder im oben und in der Mitte versickert sind. Genau wie hier eben.
Falls die neue Außenministerin wieder so wenig Feingefühl für andere Klassen entwickelt,dann sieht es schlecht aus für Frauen aus anderen Kasten.Frau Baerbock wird sich vielleicht doch nicht die Oberhoheit über alle Aspekte der Außenplitik aneignen und sich endlich mit Zweibeinern treffen,die schon viel länger dort arbeiten.Die Frage aller Fragen-Will sie das?Mich intereesiert,ob sich Frau Baerbock dafür interessiert und Leute zu sich einlädt um eben genau,was zu erfahren,was sie noch nicht weiß oder kann.
Natürlich manifestiert sich durch die Religionen auch die Klassenstruktur. In jeder Religion irgendwie anders, aber sie ist meistens da (selbstverständlich auch in der BRD, in Europa).
Jedoch eine besonders für (arme und ausgegrenzte) Frauen leidens- und gramvolle Variante besteht in Afghanistan (und auch in den tribal areas des Pak-Grenzbereiches, und in Nord-Pakistan).
Hier vor allem auf dem abgeschiedenen Land, und bei der urbanen Slumbildung.
Wenn man(n)/frau da in der realen Gegenwart effektiv helfen will, braucht es direkt-vor-Ort Menschen mit der entsprechenden kulturellen Prägung und dem richtigen Gefühl für die lokale Situation.
Typus: Barfussdoktor/in. Direkte ‚Zakat‘-Ansprache durch die lokale Ummah.
‚Kopfgeburten‘ aller Art helfen da wenig, und seien sie auch noch so gut gemeint.
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Auf der ‚staatspolitischen‘ Ebene wird gegenwärtig wohl alles scheitern, das offen oder versteckt die klassisch-westliche Überlegenheitsaura reflektiert, weiter motiviert und übertragen will.
Angepasste, rein technische Hilfe in der klein-strukturierten Agrar-Kultur, der lokalen Wasserversorgung, bei der Aufforstung, in Disaster Risk Reduction (DRR) und bei ähnlichem, sind sicherlich gerne willkommen.
Danke für den Artikel.
Oft muss ich an die rechtlosen Frauen in Afghanistan denken, deren Leben eine Hölle ist.
Ich bin kein Freund von zu viel Migration nach Deutschland, vor allem, da diese in ihrer großen Mehrheit junge Männer sind.
Den absolut hilflosen Frauen und Kindern Afghanistans würde ich tatsächlich ein großes Welcome bieten.