Wer kann, der geht

Nordmazedonien Die EU hat Beitrittsgespräche auf Eis gelegt. Damit stärkt sie die Nationalisten und den Exodus der Jugend
Ausgabe 46/2019
Für Ministerpräsident Zoran Zaev war die EU-Entscheidung ein Schlag ins Gesicht
Für Ministerpräsident Zoran Zaev war die EU-Entscheidung ein Schlag ins Gesicht

Foto: Robert Atanasovski/AFP/Getty Images

In dem Buch Der leere Himmel, in dem der Schriftsteller Richard Wagner Geschichte, Mentalitäten und Realitäten des Balkans beschreibt, stellt er die Frage: „Wie wäre es, wenn wir die Balkanfragen als europäische betrachten würden? Den Nationalismus, den Extremismus, die Arbeitslosigkeit, die schlechte Zahlungs- und Steuermoral, die Korruption, die organisierte Kriminalität, die Armut?“ Dann – so resümiert er – gelänge es uns besser, den Balkan zu verwalten. Von dieser Betrachtung ist das westliche Europa seit Mitte Oktober weiter entfernt als 2013, im Erscheinungsjahr von Wagners Buch. Die meisten der Westbalkanländer hofften bereits damals, in die Europäische Union aufgenommen zu werden. Vergeblich, seither üben sie sich im Warten. Vorläufig hat es ein Ende, kein gutes freilich.

Auf dem Brüsseler Gipfel am 17./18. Oktober haben sich die 28 EU-Mitglieder nicht auf die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit den „Spitzenkandidaten“ Nordmazedonien und Albanien einigen können. Vor allem Frankreichs Präsident Emmanuel Macron stemmt sich dagegen, solange der Staatenbund selbst die aus seiner Sicht unumgänglichen Reformen schuldig bleibt.

In Nordmazedonien hat diese Entscheidung eine schwere Regierungskrise ausgelöst, mit der demnächst ein erster Dominostein fällt: Ministerpräsident Zoran Zaev von der sozialdemokratischen Partei SDSM hat für Januar seinen Rücktritt angekündigt, im April soll es Neuwahlen geben. Für den 45-jährigen Zaev geriet die Zurückweisung durch Brüssel zum politischen Desaster. Gegen nationalistische Kräfte und den Willen von Teilen der Bevölkerung hatte er im Vorjahr die Umbenennung von Mazedonien in Nordmazedonien durchgesetzt. Damit ließ sich der seit einer gefühlten Ewigkeit schwelende Namensstreit mit Griechenland beilegen und der Weg ebnen für ein griechisches Einverständnis mit möglichen Beitrittsgesprächen. Jahrelang hatte sich Athen dagegen gewehrt, weil das Westbalkanland denselben Namen trug wie die griechische Provinz Mazedonien.

Nach diesem Kraftakt war man in Skopje davon überzeugt, auf eine Zukunft im Schoß der EU hoffen zu dürfen. Dass die jetzt zur Disposition steht, ist eine Zäsur, wie es sie für dieses Land seit der Erosion Jugoslawiens und der Unabhängigkeit von 1991 nicht mehr gegeben hat. Für eine Mehrheit seiner 2,1 Millionen Einwohner bleibt der Alltag von Armut und Arbeitslosigkeit sowie Korruptionsskandalen bestimmt. 2001 führten ethnische Konflikte mit der albanischen Minderheit, die ein Viertel der Bevölkerung ausmacht, zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Auch wegen dieser brisanten Situation erhielt das damalige Mazedonien 2005 einen EU-Kandidatenstatus und durchlief einen Transformationsprozess, bisher allerdings ohne nennenswerten ökonomischen Erfolg für eine der schwächsten Volkswirtschaften in Europa. Derzeit liegt das Durchschnittseinkommen von 380 Euro bei einem Drittel des EU-Durchschnitts.

Als Premier Zaev 2017 ins Amt gewählt wurde, löste er Nikola Gruevski ab, der elf Jahre lang regierte. Gruevski, auf dessen Konto ein milliardenschwerer Umbau der Kapitale Skopje mit klassizistischen Fassaden und monumentalen Standbildern ging, wurde wegen Amtsmissbrauchs zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, floh vor dem Strafvollzug und erhielt in Ungarn Asyl. Mit der Wahl des Sozialdemokraten Zaev ging die Erwartung einher: Nicht nur eine korrupte Regierungspraxis, auch die schwelenden ethnischen Konflikte lassen sich eindämmen. Zaev hatte versprochen, ein Regierungschef aller Bürger sein zu wollen. Dass er dabei zu sehr auf eine mutmaßlich aufnahmewillige EU vertraute, gereicht ihm nun zum Schaden und ist Wasser auf die Mühlen der Nationalisten. Sie können der Bevölkerung suggerieren, dass Brüssel kein Interesse an Beitrittsverhandlungen hat, und sich schon vor den Neuwahlen als Alternative empfehlen. Doch nicht nur Zaev und seine Partei sind Verlierer einer stornierten EU-Aufnahme, auch auf die Jugend Nordmazedoniens trifft das zu. Sie ist der politischen Ränkespiele und der Aussichtslosigkeit schon lange müde. Wer kann, der verlässt das Land. Wie überall auf dem Westbalkan schwächt der sogenannte Braindrain, die Abwanderung von Akademikern und jungen, gut ausgebildeten Menschen, die Wirtschaft zusätzlich. In vielen Bereichen – Medizin, Technologie, Logistik, Bildung – fehlt es an Fachpersonal.

Ansporn für Nationalisten

Die Jugendlichen, die bleiben, haben sich an die Aussicht auf den EU-Beitritt lange wie an ein Heilsversprechen geklammert. Mehr als 50 Prozent der 20- bis 30-Jährigen sind arbeitslos, so weit die offizielle Zahl, die tatsächliche dürfte um einiges darüberliegen. Die sozialdemokratische Abgeordnete Ivana Tufegdžić, die erst 27 ist und die Jugendthemen ihrer Partei vertritt, frohlockte nach der Namensänderung, jetzt bewege sich das Land vorwärts und der Prozess könne nicht mehr gestoppt werden.

Nach dem Votum gegen Beitrittsverhandlungen sprach Tufegdžić von einem sehr dunklen Tag für die junge Generation. Die Enttäuschung könnte Radikalisierungs- und nationalistische Tendenzen verstärken, vor allem unter jungen Menschen. In einer Jugendstudie von 2017 schreibt Eva Ellereit, Landesdirektorin der Friedrich-Ebert-Stiftung in Skopje, ihr sei klar geworden, dass die Jugend sehr anfällig für Populismus sei. Wer im Land bleibe, werde Halt brauchen. Wenn die EU kein glaubhaftes Ziel mehr sei, „dann können Nationalisten florieren. Das ist gerade auf dem Westbalkan gefährlich.“ Doch gibt es eine Gegenbewegung. In fast allen Westbalkanländern entstanden im zurückliegenden Jahrzehnt mit finanzieller Hilfe der EU meinungsstarke und gut organisierte Jugendbewegungen. Sie vertreten Mitbürger um die 20, die ihr Glück nicht im Ausland suchen, sondern das eigene Land verändern wollen. Sie verlangen Partizipation und stellen traditionell hierarchische Gesellschaftsstrukturen in Frage.

Blazhen Maleski, wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Reactor – Research in Action, einem in Skopje ansässigen Thinktank, der sich mit Geschlechtergleichheit, Jugend und urbaner Entwicklung beschäftigt, meint zur augenblicklichen Depression: „Wir warten seit 14 Jahren und haben alles erfüllt, was die EU von uns gefordert hat. Ich hoffe trotzdem, dass auch künftig alle Parteien einen EU-Beitritt als einzige Option für unser Land sehen. Wir müssen unsere Enttäuschung jetzt überwinden und Nordmazedonien zu einem besseren Ort für seine Bürger machen.“

Auch Blazhen Maleski befürchtet, die Nationalisten könnten jetzt ihr Narrativ vom „Verrat durch die Regierung“ unter die Leute bringen. „Auf alle Fälle stehen wir an einem Scheideweg. Ob die Tür zur EU geöffnet bleibt, werden die anstehenden Entscheidungen in Nordmazedonien beweisen, nicht die Versprechen der EU-Politiker. Wenn Europa hier seinen Einfluss verliert, erwarten wir eine Destabilisierung der gesamten Region.“ Ministerpräsident Zaev bemüht sich nach der ersten Verbitterung um Zweckoptimismus. Zwar kritisierte er die gestundeten Beitrittsgespräche als „historischen Fehler“, wie vor ihm bereits EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Sein Ziel bleibe eine starke Westanbindung. Offenbar gilt es Befürchtungen zu zerstreuen, Russland oder China könnten mehr Zuwendung finden. Die Beziehungen mit Moskau, wo man einst die Unabhängigkeit Mazedoniens vorbehaltlos anerkannte, sind eng. Die nationalistischen Kräfte wollen eine Regierung, die sich sehr viel mehr darauf stützt. Ebenso auf China.

Peking engagiert sich aus geoökonomischen Gründen mit seiner Belt-and-Road-Initiative auch auf dem Westbalkan. Auf dem Weg zum Status der Weltmacht Nr. 1 soll in dieser Region ein Netzwerk aus Straßen und Schienenwegen dabei helfen, die eigenen Waren zu dislozieren. Der gesamte Balkan gilt als das Einfallstor zum westlichen Europa. „Der Einfluss anderer Staaten wie Russland oder China wird größer werden, weil die EU Worten keine Taten folgen lässt.“ Die Mitgliedstaaten hätten einer Verbreitung der europäischen Idee keinen Gefallen getan, urteilt Eva Ellereit.

„Europa ist überall und nirgends, es ist Hoffnung und Mythos zugleich, verantwortlich für alles und Sehnsucht dazu. Der Himmel ist leer, und Europa ist sein Ersatz“, so endet das Buch von Richard Wagner. Vielleicht füllt Nordmazedonien nun, da Europa kein Ersatz mehr sein will, seinen eigenen Himmel. Oder sucht sich einen anderen, der viel weiter im Osten liegt.

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