Casanova, mindestüppig

Versalzen Wilhelm Genazinos "Liebesblödigkeit" ist eine Enttäuschung

Das Wort "Eingriffstiefe" stammt aus einem Wissenszweig mit dem unschönen Namen "Technikfolgenabschätzung". Es soll das Maß einer Gefahr bestimmen: je mehr eine Technik auf die natürliche Umwelt einwirkt, je unumkehrbarer sie ein System verändert, desto größer ist das mit ihr einhergehende Risiko. Wenn es für die Literatur, für die Kunst, eine solche Kategorie gäbe, müsste sie mit umgekehrten Vorzeichen gelten: je tiefer der Eingriff ins Fühlen und Denken, je nachhaltiger eine Lektüre uns verändert, desto besser. Anders gesagt: Manche Bücher sind so gut, weil sie so furchtbar wirken.

Wilhelm Genazino produziert Literatur von nicht unerheblicher Eingriffstiefe. Als ein "Chronist des Alltags" wird er oft beschrieben, doch das sagt zu wenig, denn seine Methode ist die Grausamkeit. Minutiös, zwanghaft besessen vom unangenehm peinlichen Detail, beschreibt er jene flüchtigen Wahrnehmungen, die gemeinhin mit gutem Grund ohne Ausdruck bleiben, weil das Unausgesprochene, die Nicht-Kommunikation der Kitt sozialen Lebens sind. Bei Genazino taucht das alles auf: das schwarze Haar unterm Ohr der Geliebten, das ihn beim Beischlaf stören wird; das stinkende Butterbrot des Gegenübers; die Frau, die mitten auf dem Marktplatz die Arme hebt und unter ihren Achseln schnüffelt. Diese fast unbemerkten Wahrnehmungen - Leibniz würde sie petites perceptions nennen - sind im wahrsten Sinne des Wortes "unwillkürlich". Zu schnell, um vom trägen Verstand eingeholt zu werden, entsprechen sie oft nicht dem, was wir denken oder einer Person gegenüber empfinden wollen. Genazinos Angestellten-Roman Abschaffel ist voll von solchen Irritationen, und man muss immer weiter, immer weiter lesen, gerade weil man es kaum aushalten kann. Es ist beklemmend, es ist atemberaubend, es ist furchtbar, und es ist furchtbar komisch.

Die Methode des lupenreinen Blicks aufs sprachlos Wahrgenommene hat Genazino auch in seinem neuesten Roman vielfach virtuos eingesetzt: "Ich sitze (im Zug) mit dem Rücken an der Wand einer Toilette. Ich kann hören, welcher WC-Besucher sich nach dem Gebrauch der Toilette die Hände wäscht und welcher nicht." Der Ich-Erzähler, ein mediokrer freiberuflicher Seminarleiter von 52 Jahren, lebt seit langem schon parallel in Liebesbeziehungen mit zwei Frauen, die nichts voneinander wissen und nicht voneinander wissen sollen. Was das Motiv einer Casanova-Geschichte sein könnte, ist bei Genazino demütig ins Bescheidene verkehrt. Zwei gleichzeitige Lieben, die der Erzähler überdies Männern wie Frauen anempfiehlt, sind für ihn das angemessene Maß an "Mindestüppigkeit, mit der wir den Kampf gegen unser armseliges Leben antreten können." Mehr ist das nicht. Doch es gibt ein Problem in dieser Dreierkonstellation, das fern aller großen Tragödien der Eifersucht, der Moral, der Gewissensqualen liegt. Den Erzähler plagt das banale Gefühl, rasch zu altern und irgendwann mit zwei Frauen überfordert zu sein. Vor allem könnte er es nicht ertragen, wenn - falls ihm etwas zustößt - die beiden Frauen ausgerechnet an seinem Krankenbett aufeinander träfen. Also heißt´s entscheiden. Aber wie gehen Entscheidungen? Sandra, eine 41-jährige Sekretärin, ist einfach aber herzlich von Gemüt, umsorgend auch in sexueller Hinsicht und "neigt dazu, die Tatsachen des Lebens ohne Aufbesserung hinzunehmen." Judith, 51, eher intellektueller Natur, ist kritisch, gebildet, lakonisch und eine "für das Problem der Sexualverlöschung wahrscheinlich geeignetere Frau."

Sein Liebesproblem trägt der Erzähler durch den ganzen Roman mit sich wie einen immer wieder auftretenden Furunkel, einen, der zwischen den sonstigen Hypochondrien und den wechselnden Mindestleiden seinen Platz nimmt, zwischen den Krampfadern, dem Ekzem an der Hand, der Druckwelle im Brustraum, dem sich mal rot-bräunlich verfärbenden mal schäumenden Urin. Wer so genau hinsieht, hat guten Grund, sich rundum immer im Kreis zu quälen und Liebesblödigkeit dreht sich mit, zwischen Seminarreisen, trister Rentnerbetrachtung, Balkonpflanzengießen und den Taubenvertreibungsmaßnahmen der Nachbarin. "Warum brauche ich gar keine wirkliche Not, um mich fast immer in Not zu befinden?" Der Erzähler suhlt sich in dem, was er seine "Unglückseitelkeit" nennt.

Sich übertrieben klein machen, ist eine Methode der Komik und der Ironie. Manches in Genazinos Figuren erinnert an Robert oder auch an Martin Walser, manches an Kafka. "Wieder habe ich das Gefühl, dass ich mich ohne Not unwürdig darstelle." Genazino operiert an der Grenze des Schambesetzten, des Ekelhaften. Nur wenn man sich selbst ganz klein macht, kann man das Ungeheure sagen. Es wird verabreicht als Spurenelement, als homöopathische Dosis, und die wirkt, wie man weiß, bisweilen heftig.

Doch wer mit Mikrogramm hantiert, kann sich schnell vertun, ein kleiner Hauch zu viel wird die Suppe definitiv versalzen. Irgendwie will Genazino in Liebesblödigkeit den Komiker herauslassen. Der Erzähler ist eben von Beruf "freischaffender Apokalyptiker", über die Apokalypse hält er seine Seminare und "die ernährt ihren Mann". Er ist umgeben von einer ganzen Reihe unsicherer Existenzen wie dem "Panik-Berater" Dr. Ostwald, dem "Empörtenbeauftragen", dem "Ekelreferenten", der "Staubforscherin", dem "Postfeind" - ja, das sind Schenkelklopfer. Genazino übertreibt das Untertreiben, er dreht die Schraube zu weit, irgendwann, relativ bald im schmalen Buch, wird sein Stil unangenehm und geht auf die Nerven, das Genazino-Biotop ist umgekippt.

Auch die Hör-CD, gelesen vom Autor selbst, verstärkt den Eindruck. Was anfangs noch den atemraubenden Abschaffel-Touch hat, wird schnell fade, eintönig wie die Mittellagen-Stimme des Autors, die immer in einer Linie bleibt, immer auf einer Höhe, ein einziger Singsang der Alltagspenetranz. Einmal umgeschlagen, kippt auch die desillusionierende Beschreibung von Geschlechtsakten ins irgendwie Sexistische: "Nur mit Widerstand erinnere ich mich, dass ich mich damals gegen meinen Willen von Bettina zurückzog, weil ich mit ihrer Sekretion nicht mehr fertig wurde." Es wäre eine feine Balance gewesen, doch sie stimmt nicht mehr, und es mag sein, dass ein Teil der Entzauberung auch der Form geschuldet ist: eine Ich-Erzählung ist wenig distanzierend, man kann nicht umhin im Erzähler immer wieder das Genazino-Konterfei vom Buchdeckel zu suchen.

Das Judith-Sandra-Problem findet überdies eine so unspektakuläre wie unkonventionelle Lösung am Ende des Romans, der damit auch zu einer klugen Erzählung über die Logik von Entscheidungen wird. Doch das hilft nicht: Wer Abschaffel mochte, kann Liebesblödigkeit nur - mit Verlaub - blöde finden.

Wilhelm Genazino: Die Liebesblödigkeit. Roman. Hanser, München 2005, 203 S.,
17,90 EUR

Die Liebesblödigkeit. Hörbuch, Hoffmann Campe, 2005, 5 CDs, 25 EUR


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