Channeln mit Engeln

Boom Früher war sie eine richtige Geheimlehre, heute ist die Esoterik in der Mitte der Gesellschaft angekommen
Blendwerk der Moderne?
Blendwerk der Moderne?

Foto: Jock und Scott

Mindestens 36 riesige Regalmeter misst die Esoteriksektion in der Thalia-Buchhandlung in der Wiener Landstraße. Wer hier mal etwas länger verweilt, spart sich den nächsten Fantasyfilm. Los geht die Reise in das unglaubliche Universum der Channelmedien und Geistheiler. Engel verkünden, Edelsteine schwingen, Earthing ist keinesfalls im übertragenen Sinne mit „Erdung“ zu übersetzen. Orakel weisen den Weg. Magisch sind Kräuter und Schilde. Steig auf in Astralwelten und die fünfte Dimension, lerne die Weisheit von Atlantis, sei im Einklang mit der göttlichen Matrix, höre die Lichtsprache, die Botschaften von Lady Rowena, die Durchsagen des Meister Konfuzius oder lese Das Evangelium der Maria Magdalena. Huna-Code, Jesaja-Effekt, Soul-Body-Fusion: Die Fülle an Titeln und Themen ist wahrlich erschlagend, und das Thalia-Angebot ist selbstverständlich noch bescheiden im Vergleich zu dem der richtigen Fachhandlungen für Esoterik des täglichen und außeralltäglichen Bedarfs.

Geheimes Wissen für alle

Das Wort Esoterik bedeutet eigentlich „nach innen gerichtet“. Es bezeichnet ein „verborgenes Wissen“, das nur einer ausgewählten Gemeinschaft zugänglich ist. Weil esoterische Lehren sich mit dem befassen, das jenseits des anerkannten Wissens und der gängigen Meinung liegt, haftet ihnen oft ein Hauch des Verrückten, Unheimlichen und des Ausgestoßenen an. Das hat eine lange Tradition. Die Kirche verfolgte solche Lehren als Häresie, und weil man gern mit dem Verbotenen spielt, gehören Hexenkult und Satanismus in jedes gute Buchregal der Esoterik. Es gibt ja immer eine dunkle und eine helle Seite.

Neu sind die meisten dieser Ideen nicht, nur die Begriffe und Konzepte verschieben sich. Was früher Spiritismus war, heißt heute Channeln. Bemerkenswert ist aber, wie stark die Esoterik boomt. Sie beugt sich äußerst willig dem doch irgendwie paradoxen Erfordernis, das „Geheimwissen“ für jedermann zugänglich, leicht verdaulich und vor allem käuflich zu machen.

Immer noch spielt sie mit dem Zauber des Verborgenen, der besonderen spirituellen Begabung der Meister und Medien, doch gleichzeitig kann man all diese Fertigkeiten angeblich auch per Kurs oder Handbuch lernen. Quantenheilung geht ruckzuck, in zehn Minuten. Ausbildungen zum Holistic Healing Coach oder zum Certified Shamanic Practitioner dauern mehrere Jahre. Auf kongeniale Weise trifft sich der für Esoterik so typische Synkretismus, also die Vermischung von Ideen, mit dem herrschenden Prinzip verfestigter Produktemergenz. Unterm Marktverdikt, weiten sich Angebot und Inhalte der Esoterik, die Grenzen zu Psychologie, Wellness, allgemeiner Lebenshilfe und alternativen Heilmethoden sind kaum noch zu ziehen. Vielleicht kann man sagen, dass die Esoterik durch ihren rasanten Vermarktungsprozess immer normaler, das normale Leben derzeit aber auch immer esoterischer wird.

In sozusagen homöopathischen Dosen schlucken wir Eso bei jedem Sportstudio- oder Biomarktbesuch. Das Leichte, Luftige, Ätherische, das Weiche, Fühlende, den Naturklängen Folgende, das in sich Hineinlauschende, den kosmischen Kräften Nachspürende, das erdverbunden Ganzheitliche: Gerade die helle Seite der Esoterik trifft irgendwas am Zeitgeist. Das geht bis hinein in die Ästhetik. Die fantastischen Engelkarten von Diana Cooper sind in dem gleichen Pastell gehalten wie die Naturkostzeitung eve: Ernährung, Vitalität, Leben.

Ganz einfach als Unsinn abtun lässt sich die Esoterik nicht. In gewissen säkularen Kreisen ist sie ist schambesetzt, niemand will wirklich „eso“ sein, aber ein bisschen ist man es dann doch. Selbst die kühlsten akademischen Köpfe geben zu, mal beim Horoskoplegen gewesen zu sein oder bei einer ominösen Touch-Therapeutin. Es bleibt ja dieser durch Rationalität nicht auflösbare Rest. Man kann nie wissen, ob der Zauber nicht doch wirkt.

Der Boom der esoterischen Angebote lässt sich mit gutem Recht als massives gesellschaftliches Trostbedürfnis deuten oder als Ausdruck tiefer Ratlosigkeit. Innen, Selbst, Geist, Energie, Heilen, Stille, Fluss, Sanftheit, Harmonie, Ausgleich, Reinheit, Entdecken – das sind die Vokabeln der hellen Esoterikwelle. Es sind Vokabeln, in denen sich religiöser Impuls und fanatische Selbstsorge zu einer eigenartigen Symbiose verbinden. Als sei die alte Furcht fürs Seelenheil ins magisch aufgeladene Diesseits verschoben. Erlösung muss hier und jetzt als Selbstfindung geschehen.

Es war schon immer schwer zu bestimmen, ob Esoterik eigentlich religiös ist, und wenn ja, in welchem Sinn. Vor einigen Jahren kursierte das Schlagwort vom „Megatrend Spiritualität“. Der Theologe Paul Zulehner vertrat die These, dass die Zeit des europäischen Säkularismus zu Ende gehe. Die angeblich neu erwachte Gottessehnsucht freute die Kirchen einerseits und war ihnen doch nicht ganz geheuer. Offenbar führte der Megatrend gerade nicht zu einer Rückkehr zum christlichen Glaubensbekenntnis, sondern zu halbfrommen und stark am persönlichen Geschmack ausgerichteten Weltanschauungsbricolagen. Von kirchlicher Seite bezeichnete man Esoterik daher gern als „Auswahlspiritualität“ oder „Sehnsuchtsreligion“.

Ist alles eins?

Ganz klar ist die Grenze der Esoterik zum Christentum nicht zu ziehen, aber auch nicht die des Christentums zur Esoterik. Der Katholizismus zumindest ist oft nah dran, denn Reliquienanbetung, blutenden Heiligenbilder, Marienerscheinungen oder Lourdes-Wunder sind nicht wirklich weit entfernt von magischen Zauberritualen und esoterischen Lichtheilungsversprechen. Im Gegensatz zu den klassischen Monotheismen gibt sich die Esoterik recht laissez-faire, per se synkretistisch spielt sie mit Versatzstücken, auch gerne mit denen der christlichen Tradition. Für sie ist vieles richtig, tausend Wege führen zur Weisheit und letztlich ist doch alles eins: ein Kosmos, eine Urenergie, ein Geist.

Ob aber alles eines ist oder nicht, das ist die eigentliche Frage. Der grundsätzliche Unterschied zwischen Christentum und Esoterik wird von den Theologen oft am personalen Schöpfergott festgemacht. Das klingt für säkulare Ohren unglaublich, doch es hat einen philosophischen Sinn. „Schöpfung“ bedeutet nämlich: Gott und Kreatur sind zwei verschiedene Dinge, der eine kann nicht zum anderen werden. Das Christentum verfährt mit dieser Idee nicht ganz so konsequent wie das Judentum, immerhin wird christlich der Gottessohn zum Menschenkind. Trotzdem ist der Unterschied gesetzt, und ob man nun an Gott glaubt oder nicht: Die Differenz hat etwas Bestechendes, denn der Riss zwischen Gott und Mensch begründet Freiheit. Irgendwie hat es doch etwas Beruhigendes, sich vorzustellen, dass man als Mensch gerade nicht Gott ist, dass man etwas anders ist als eine bloße Ausstülpung der kosmischen Energie, etwas anderes als ein Faltenwurf des Tao.

Ist aber der Riss gegeben, entsteht Beziehung, und nach christlichem Glauben wendet sich Gott an sein Geschöpf. Recht besehen hat niemand die Einzigartigkeit der Person schärfer gedacht als das Christentum. Indem es ihm verbietet, wie Gott zu sein, hat das Christentum den Menschen erhöht wie keine andere Religion.

Man muss das Christentum nicht lieben. Aber was macht so beklommen an der Esoterik? Sie ist ein eigenartiges Mischgebilde. Sie ist fantastisch und tut doch wissenschaftlich, sie gibt Heilsversprechen und schürt zugleich Ängste, sie ist autoritätshörig und doch aufsässig, sie ist streng, dann aber auch wenig dogmatisch, sie ist zugleich kritisch und leichtgläubig. Aberglaube heißt ja nicht falscher Glaube, sondern „zu viel Glaube“. Es ist ein wesentliches Merkmal der Esoterik, dass sie zwischen Geist und Materie, Denken und Sein nicht unterscheidet. Das führt zu dem, was die Philosophen gemeinhin einen „naturalistischen Fehlschluss“ nennen. Im esoterischen Weltbild wird die Metapher zur Wirklichkeit, und die Wirklichkeit zum sympathetisch verwobenen Deutungsraum. Weil sie bewusst nicht zwischen Konzept und Realität unterscheidet, kann Esoterik so tun, als gebe es die kosmischen Energien, die acht Chakren des Körpers und die Farben der Aura wirklich, als könne man tatsächlich mit Engeln telefonieren.

Vermutlich hat das traditionelle christliche Weltbild – entgegen der Hoffnungen auf einen Megatrend – weitgehend ausgespielt. Der Glaube an den einen Schöpfergott scheint heute weniger plausibel denn je. Ein bunter Polytheismus, der zugleich ein Pantheismus ist, eine Art religiöses Heidentum, passt definitiv besser in die gegenwärtige Zeit und ihre romantische Sehnsucht nach Archaik.

Es ist politisch nicht ganz unwichtig, welche Strategie der Kontingenzbewältigung eine Kultur mehrheitlich wählt und auf welchen Prinzipien ihre Glaubensüberzeugungen beruhen. Aufschlussreich ist das außerdem. „Energie, Heilen, Stille, Fluss, Sanftheit, Harmonie, Ausgleich, Reinheit, Entdecken“ sind Ideologeme, und es sind solche, in den die Gesellschaft nicht vorkommt. Das esoterisch inspirierte Individuum ist ganzheitlich mit sich selbst beschäftigt. Täuscht der Eindruck, dass die Vokabeln „Vernunft“ und „Freiheit“ – seit wann eigentlich? – auf der Liste der meistzitierten Worte ziemlich weit nach unten gerutscht sind?

Andrea Roedig arbeitet als Publizistin in Wien. Ein Dank an Saskia Wendel für theologischen Input

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