In der Oberlausitz liegt schon Schnee. Früher war er braun in dieser Gegend, und die Dächer im Sommer waren weiß - weiß vom Karbid, braun von der Kohle und schwarz hieß das Dreieck zwischen Turów, Hagenwerder und Hirschfelde, eines der wichtigsten Energielieferanten der DDR. Es war das Energie-Herz der Region, ohne dessen beständigen Schlag - rund um die Uhr und 365 Tage im Jahr - die Lichter mindestens bis rauf nach Dresden ausgegangen wären. In diesem Landstrich ist es immer ein paar Grad kälter als in anderen Teilen der Republik und im Sommer etwas wärmer. Ein Inlineskater gleitet am gut asphaltierten Ufer der Neiße entlang durch die Landschaft, die leichte Schneedecke auf den Wiesen ist weiß. Wir sind auf dem Weg nach Hirschfelde.
Von dem ältesten Großkraftwerk Sachsens, 1911 und 1918 in zwei Sektionen erbaut, steht nicht mehr viel. Doch seit der Stillegung 1992 trifft sich eine Gruppe ehemaliger Kraftwerker jeden Donnerstag und - arbeitet. Ihre geparkten Autos auf dem freien Feld vor dem abgenutzten Gebäude der Maschinenhalle des Werks II nehmen sich eigenartig bunt aus. Es kommen für gewöhnlich rund 15, um die alten Maschinen zu pflegen, um zu putzen, zu basteln, um zu erhalten und zu sammeln - seit 13 Jahren bauen diese Menschen stetig und beharrlich ihr Kraftwerk zum Museum um. Ihr Kraftwerk? Wir werden sehen. Um sieben Uhr donnerstags beginnt die Schicht, um 15 Uhr ist Schluss. Um 11.45 Uhr gibt´s Mittag, alles will seine Ordnung haben.
Wolfgang Meißner kann zugleich bescheiden und verschmitzt lächeln. Er sitzt im ziemlich gut geheizten Direktorenbüro und hätte, wenn die Turbinen noch laufen würden, in diesem Jahr sein 40. Dienstjubiläum. 1965 kam er nach dem Studium als Jungingenieur ins Kraftwerk, war dann Schicht- und später Betriebsingenieur. Heute ist Meißner erster Vorsitzender des "Fördervereins Technisches Denkmal und Museum Kraftwerk Hirschfelde e.V.", wie es korrekt heißt, eben jener Gruppe ehemaliger Arbeiter und Ingenieure, die heute hier pflegt und erhält, und die sich gleich 1991 zusammenschloss, als abzusehen war, dass man das Werk stilllegen würde. Das Vereinswesen war fürwahr keine DDR-typische Vergemeinschaftungsform - aber irgendwer hatte geraten, sich unter neuen Verhältnissen besser als e.V. zu organisieren. Und während draußen auf dem Gelände der Abriss lief, hat die Gruppe drinnen restauriert und erreicht, das Maschinenhaus des Werks II unter Denkmalschutz zu stellen. Ja, Meißner ist Chronist eines Prozesses von Industriesterben. Traurig wirkt er auf den ersten Blick nicht.
Denn ihm gegenüber am Tisch sitzt die Zukunft. Anja Nixdorf ist 26 Jahre jung, Görlitzerin mit abgeschlossenem Studium Kulturmanagement, begriffen im Aufbaustudiengang zum Schutz europäischen Kulturerbes und jetzt die Projektentwicklerin des Kraftwerkmuseums. Sie verwendet Begriffe wie "qualifizierte Standortentwicklung", "Brachenmanagement", "touristisches Portfolio". Sie spricht von Pontes, dem EU-Förderprojekt "Lernende Region", Museumspädagogik und der Kunst, Kultur zu ermöglichen, und sie spricht, dem immanenten Pathos dieser Vokabeln angemessenen, mit Herz und Überzeugung. Zwischen diesen beiden Polen also liegt die Lausitz, zwischen Maschine und Management und zwischendrin steht der Energiekonzern Vattenfall, dem das Gelände gehört, und seine Tochtergesellschaft Biq, eine Immobilienservice-GmbH, die sich darum kümmert, stillgelegte Standorte zu vermarkten, und die zu einem Teil auch die Stelle von Frau Nixdorf zahlt. Man ist mittendrin im Transformationsprozess. An der Tür zum alten Direktorenbüro hängt einer dieser flotten Sprüche, die eher an Kneipentresen als auf Managementflipcharts stehen: "Hauptsache es geht vorwärts. Die Richtung ist egal."
Die gigantische Halle II erinnert nicht zufällig ans Berliner Naturkundemuseum mit dem riesigen Dinosaurierskelett im Zentrum. Hier heißt das Urvieh Maschine 3, eine alte Dampfturbine, Baujahr 1922. Schon zu DDR-Zeiten haben die Kraftwerker sie vor der Verschrottung gerettet: als sie 1981 außer Betrieb ging, hieß das Programm noch: "alles für Martin", das heißt alles hergeben für die Martinswerke, und der alte Gigant mit seinen mächtigen Kupferreserven hätte fast dran glauben müssen. Man hat ihn - stillgelegt - behalten dürfen und mit dem Bewahren also schon recht lange Erfahrung. Auch der zweite Koloss, Maschine 5, ist eine Gerettete. Sie blieb zurück, als die Russen nach dem Krieg Industrieanlagen demontierten. Turbine 5 leistete von 1929 bis 1992 insgesamt 413.056 Betriebsstunden - da kann sentimental werden, wer an Helden der Arbeit glaubt.
In der Halle herrschen eisige Temperaturen, und um zu begreifen, wie ein Braunkohlekraftwerk im einzelnen funktioniert, ist es definitiv zu kalt. Früher muss es auch unerträglich laut gewesen sein in diesem Werk, das zu Spitzenzeiten 1.200 Arbeiter beschäftigte. Es steht noch der Lärmschutzraum, in dem die Kraftwerker sich aufhalten konnten. Meist aber zogen sie es vor, draußen zu bleiben wegen des Lärmzuschlags, der gezahlt wurde.
Was hier als Museum fungiert, ist definitiv wenig didaktisch aufgebaut, es ist eher eine Schatzkammer, eine Fundgrube vor allem in Sachen Industriedesign und special interest der einzelnen Vereinsmitglieder. Herr Grigoleit wirft für uns die Synchronisierungsanlage an, die der mittlerweile verstorbene Kollege Nitschke akribisch aufgebaut hat mit eindrucksvollen Lämpchen und Druckanzeigen. Dass man jetzt Strom braucht, um Stromerzeugung zu simulieren, gibt der Vorführung eine melancholische Ironie. Die Werkshalle ist ein Bastlermuseum, geplatzte Rohre liegen da, die von den nicht ganz seltenen Unfällen im Werk zeugen, die Sammlung von Telefonen unterschiedlichster Design-Generationen könnte auch beim Trödler stehen. Eine alte Dampfmaschine ist aufgebaut, die eigentlich mit dem Werk nichts zu tun hat, sauber geputzt, und auf ihrem Sockel stehen ein kleines Igelmännchen und ein Blumenstrauß; in einige der Öfen haben die Arbeiter Kunstfeuer gelegt, damit es ein bisschen lebendig aussieht.
Was soll man nun darüber denken? Wie rührend diese ehemaligen Arbeiter und Ingenieure an ihrem alten Werk wie an einer Heimat hängen? Für Grigoleit war es ein Gefängnis. Der Elektriker ist seit 1963 im Kraftwerk, er hätte an die Hochschule gehen wollen als Dozent, aber nicht mal ins benachbarte Hagenwerder zur Kraftwerksverwaltung haben sie ihn gelassen, weil er Verwandtschaft im Westen hatte. So kann ein Leben aussehen, immer unterfordert, immer am falschen Platz. Und jetzt macht er freiwillig hier weiter. Zwischenzeitlich gab es ja auch die "Aktion 55" - einige Stunden bezahlte Wochenarbeitszeit, um die Zeit bis zur Rente zu überbrücken. Außerdem ist Grigoleit ans Werk gewöhnt, man trifft ein paar Leute, und die Gattin zu Hause hat donnerstags freie Bahn zum Putzen. So ist das. Die Leute dieser Gegend denken praktisch.
Im vergangenen Jahr hat sich die Fachhochschule Görlitz "Hirschfelde" für ein Biografieforschungsprojekt ausgesucht. Studierende des Fachbereichs Sozialwesen haben einige der Kraftwerker ihr Leben erzählen lassen, streng nach den Regeln biografischer Interviews. Was herausgekommen ist, zeigt eine kleine Ausstellung im Obergeschoss des Verwaltungsgebäudes, ein Museum im Museum mit Zitaten und ausgelegten Interviewtexten. Es ist ein Versuch, Biografien zu retten, Lebensläufe von Menschen, die gelernt hatten, im Kraftwerk aufzugehen. Und tatsächlich erscheinen die vier Räume, gemessen an der großen Halle unten, winzig. So klein eben, wie das Arbeitsleben zusammenschrumpft im Angesicht gefräßiger Maschinerien.
Vor Anja Nixdorf liegt druckfrisch die neue Broschüre des Kraftwerkmuseums samt wohldurchdachtem Logo: es hat die Form eines Sechskantschraubenkopfes, ist blau wie die alten technischen Zeichnungen und zeigt die stilisierten Schaltungssymbole für Generator und Turbine. So hintersinnig denken PR-Spezialisten. "Wir brauchten professionelle Unterstützung", sagt der Vereinsvorsitzende Meißner. Außerdem fehlte der Nachwuchs, die Verjüngung. So ist er froh über Anja Nixdorf und das Professionelle, das sie verkörpert: Wie eine Fee ist sie, die kommt, um die alten Maschinen einer neuen Verwertbarkeit zuzuführen. Kulturindustrie heißt es bei Adorno, Industriekultur bei Nixdorf. "Es muss Zukunft organisiert werden", sagt sie. Ziel ist, dass sich Verein und Museum, denen Vattenfall bislang freundlicherweise Strom und Heizung spendiert, selber tragen. Eine Stiftung soll gegründet werden, eine Gemeinschaftsinitiative zum Erhalt des technischen Denkmals. 1.000 Besucher kamen im Oktober zum Tag der offenen Tür ins Kraftwerk, darauf kann man stolz sein, und es werden noch mehr werden. Hirschfelde ist eingegliedert in die "Lernstraße Energie", es soll ein Identitätsfaktor sein für die Menschen der Region und eine Attraktion für Touristen, die Leute heutzutage sind, gerade im Urlaub, lern- und wissbegierig.
Ja, aus der lärmenden Lausitz wird die lernende. Doch was, um ehrlich zu sein, sind 1.000 Besucher gegen 2.000.000 Megawattstunden? Wovon überlebt der Mensch und womit? Gezähmtes Herz, sauberer Schnee, gefördert wird - wenn man so will - immer noch: heute sind es Fördergelder zur Entwicklung der Region. Das ist nicht schlecht. Das ist die einzige Chance.
Die Neiße ist schmal hier unten in Hirschfelde, sehr schmal, sie scheint kaum mal zwei Meter breit. Aber sie sei tief, sagt Nixdorf. Drüben, auf der polnischen Seite, rauchen die Türme des Kraftwerks Turów. Nachbarschaftlich hat man zusammengearbeitet früher und an Weihnachten sollen die Arbeiter für die andere Seite Geschenke auf die Förderbänder gelegt haben. Das Kraftwerk Turów ist heute modernisiert, weiß ist der Rauch, es sind starke Filter eingebaut. Nur beschweren sich die Leute in der Nachbarschaft über den Krach, den es macht. Als seien sie das wirklich nicht mehr gewöhnt.
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