Was kann ein junger Mann von 23 Jahren wissen? Die Ideen zu einer Philosophie der Natur schrieb Schelling mit 22, Schiller war 23, als er seine Räuber zur Premiere brachte, Goethe 24, als sein Werther erschien. Otto Weininger, Doktor der Philosophie aus Wien, schrieb im Alter von 23 Jahren eine 600 Seiten starke "prinzipielle Untersuchung", um die "Geschlechterfrage" ein für alle mal zu lösen. Das Buch, das zu einem viel zitierten Klassiker avancieren würde, erschien im Mai 1903; ein halbes Jahr später jagte sich der junge Autor eine Kugel durch den Kopf oder ins Herz - die Angaben widersprechen sich.
Vom Public-Relations-Standpunkt aus war das ein gelungener Coup: Zunächst wenig beachtet, wurde Geschlecht und Charakter zu einem wahren Verkaufsschlager, zwölf Auflagen erschienen bis 1910, 1932 war man bei Auflage 28 angelangt, es gab sogar eine handlich gekürzte "Volksausgabe" des Werkes. Karl Krauss, der Frauenanbeter, verteidigte nachhaltig Weiningers Bedeutung, Geschlecht und Charakter gehörte zu den viel diskutierten Texten vor dem ersten Weltkrieg, sein Einfluss auf den Expressionismus war enorm, Oswald Spengler widmete im Untergang des Abendlandes Weininger einen eigenen Platz, und auch der Herr Adolf Hitler soll von diesem "ehrenwerten Juden" gehört haben, "der sich umbrachte, nachdem er begriffen hatte, dass der Jude sich von der Zersetzung anderer Menschen nährt."
Weiningers Selbstmord war - ganz im Sinne eines Gesamtkunstwerks - Teil seines Buches, die letzte Konsequenz, Bestätigung und Dementi zugleich. Das antisemitische und wohl frauenverachtendste Buch unter der Sonne als reine Projektion, als Pamphlet eines Unglücklichen zu lesen, ist zwar richtig, doch macht es die Sache zu einfach.
Einen kleinen Teil von Geschlecht und Charakter, wohl die ersten Kapitel, hatte Weininger 1902 als Dissertation eingereicht. Das Buch beginnt mit der für die Zeit noch ungewöhnlichen Behauptung einer generellen Bisexualität der Menschen, Weininger spricht von M (Mann) und W (Weib) als konstruierten Typen, die in Wirklichkeit nie auftreten. Wir alle sind Abstufungen, sexuelle Zwischenformen, und Weininger entwickelt hieraus das "Gesetz der Anziehung": Je weniger W einer hat, desto mehr W sucht er im anderen und umgekehrt, alles strebt auf Ergänzung hin.
So weit, so gut - doch plötzlich, vielleicht nicht ganz zufällig mit dem Kapitel, das "Die emanzipierten Frauen" überschrieben ist, bricht die Harmonie. Aus der Komplementarität der Prinzipien wird ein Antagonismus, ein Kampf des Hohen gegen das Niedrige, und es beginnt - versetzt mit langatmigen Abhandlungen zur Psychologie, zur Logik, zum Genie, zur Liebe - ein schier unglaublicher Sermon über Hunderte von Seiten hinweg: Das Weib hat kein Gedächtnis, es denkt in unbestimmten Begriffen, es hat keine Logik und kein intellektuelles Gewissen, es hat keine Seele, es kennt nur die Rührung, nicht die Erschütterung, es hat kein Unsterblichkeitsbedürfnis, es ist schamlos, neidisch, unsozial, leichtgläubig, unkritisch, "ganz ohne Verständnis für den Protestantismus". Genialität ist "eine Art höherer Männlichkeit", darum kann das Weib nicht genial sein.
Der Stein des Anstoßes ist klar, es ist die maßlose Leiblichkeit des Weibes, denn "W ist nichts als Sexualität, M ist sexuell und noch etwas darüber". Die Frau kann nicht lieben, das weibliche Genitale ist hässlich und überhaupt ist "das nackte Weib im einzelnen schöner denn als ganzes". Das Weib will immer koitiert werden, es ist geradezu "eine Emissärin des Koitus", und da "der ganze Körper des Weibes eine Dépendance seines Geschlechtsteiles ist", wird die Mutter "von allen Dingen, fortwährend und am ganzen Leibe geschwängert." Kuppelei ist die "transcendentale Funktion des Weibes". Das Weib ist verlogen und beeinflussbar, es hat kein Ich, es ist unfrei und will beherrscht und vergewaltigt werden. Zwar ist die Frau ein Mensch, aber "nicht nach dem Ebenbilde Gottes entstanden", jeder "tief stehende Mann steht noch unendlich über dem höchststehenden Weib", das Weib ist überhaupt als ganzes "Un-sinn".
Geschlecht und Charakter ist eine Zitatenkammer des Trash, komisch bisweilen und bisweilen tragisch, und es schraubt sich hinein in einen Furor der Ungerechtigkeit. Frauen begehen weniger Verbrechen? Weil sie nicht fähig sind zum wirklichen Vergehen. Frauen sind so sorgsam in der Krankenpflege? Weil sie herzlos Leid ansehen können. Die Mutter schreit kurz im Koitus, die Hetäre lang. Der Jude singt nicht. Die Chinesen tragen Zöpfe. Frauen benutzen vorzugsweise Leihbibliotheken. Jede zusammengeklaubte Empirie gilt als Beweis fürs gerade zu Behauptende, Weininger verschanzt sich in seinem Turm, im phobischen System der Tautologie. Genial ist der Mann, ergo: Wenn es empirisch Frauen gibt, die Züge von Begabung zeigen, dann ist dies ihren Anteilen an M zuzuschreiben. Frei ist der Mann, ergo: Je emanzipierter eine Frau ist, desto weniger W kann sie in sich haben. Emanzipation heißt Befreiung, Befreiung von der Frau.
Grenze ist Weiningers Thema, Abgrenzung und die panische Angst vor Ambivalenz. Es gibt nicht den absoluten Mann, das absolute Weib, beteuert Weininger, aber dann doch wieder: Man kann nur entweder Mann oder Frau sein. Die Konstrukte, die Typen, die Hirngespinste setzen sich hinterrücks durch, und immer wieder schreibt Weininger gegen seine eigene These von den sexuellen Mischformen an.
Grenze, der Mann ist Monade. Schließ die Fenster, lass nichts ein. Die Frau ist schamlos, fließend, ein "Rhizom". Ihre Mischlingsgestalt verbindet sie mit dem Juden, denn beide "leben nur in der Gattung, nicht als Individualitäten". Der Jude ist "geborener Kommunist", Kuppelei ist "seine organische Veranlagung", er ist "lüsterner, geiler, wenn auch sexuell weniger potent als der arische Mann", er ist seelenlos, hat keinen Anteil am ewigen Leben, ist ungläubig, unfromm, hat keinen Eigenwert, er "assimiliert sich allem und assimiliert es so sich", alles Ganze ist ihm fremd, "innerliche Vieldeutigkeit ... ist das absolut Jüdische." Weininger war 1902, am Tag des Abschlusses seiner Dissertation, zum Protestantismus konvertiert.
So sehr treibt Weininger seine Sätze auf die Spitze, dass sie beliebig werden und skurrile, unerwartete und unkonventionelle Thesen hervorbringen: Homosexualität ist keine Anomalie, lesbische Frauen sind besser als heterosexuelle, Prostitution ist besser als Mutterschaft. So sehr in jeder von Weiningers Thesen der Faschismus schlummert, so wenig können Nazis mit ihnen anfangen: Geschlecht und Charakter, unterm Nazi-Regime verboten, war auch unabhängig von der religiösen Herkunft des Autors schwer zu verdauen: "Losungen kauft nur bei Christen sind jüdisch", schreibt Weininger, und "im aggressiven Antisemiten wird man immer selbst gewisse jüdische Eigenschaften wahrnehmen". Das Judentum ist für ihn keine Rasse und kein Volk, sondern eine "Geistesrichtung", eine "psychische Konstitution".
Einmal hat der junge Weininger den Psychoanalytiker Freud aufgesucht, um ihm das Manuskript seines Buches zu zeigen. Freud soll Weininger geraten haben, solchen Unsinn besser nicht zu veröffentlichen. In einer Fußnote zur Analyse des "Kleinen Hans" erwähnt Freud "jenen hochbegabten und sexuell gestörten jungen Philosophen" und erklärt den Mechanismus der Weiningerschen Schmähungen: das dem Juden und dem Weibe Gemeinsame sei hier "die Beziehung zum Kastrationskomplex". Der Jude, der beschnittene Mann, die Frau, das Bild der vollzogenen Kastration. In der panischen Angst vor Entmannung überschneiden sich Antismitismus, Frauenhass und vielleicht auch andere Form des Ressentiments. Erklärt das den wütenden Furor, den metaphysischen Wahn einer Welt bestehend aus den Prinzipien M und W?
Weininger gibt Rätsel auf. Ist er Opfer seiner Psychose? Luzide beschreibt er an etlichen Stellen selbst den Mechanismus, dem er verfallen zu sein scheint: "Man hasst nicht etwas, womit man keinerlei Ähnlichkeit hat" schreibt er, und "daß alle genialen Menschen, soweit sie eine entwickele Sexualität besitzen, an den stärksten geschlechtlichen Perversionen leiden." Sie sind gekennzeichnet durch ein "Vorbeiwollen am Koitus".
Weinigner gibt Rätsel auf. Hin und wieder findet sich in der Literatur über ihn der Hinweis auf homosexuelle Neigungen, und tatsächlich scheinen die ganzen 600 Seiten Geschlecht und Charakter nichts weiter als nur begründen zu wollen, warum man mit einer Frau nicht schlafen muss. Abgrundtief ist der Ekel vor der Frau, ihrem Körper, aber auch dem eigenen Geschlecht: Der Phallus, "jener Teil, welcher allein den nackten Mann hässlich macht" ist "das Antimoralische". Ist Weininger wirklich ein Frauenhasser? So klein ist der Unterschied. Genitalität trennt von Genialität nur ein t - eine minimal aufragende Linie, die Weininger - per Zufall? - der Frau zuschlägt, nicht dem Mann. Sie hat den Phallus, den er auslöschen möchte.
Welche Feministin wollte nicht zustimmen, wenn er, Weininger, sagt: "Der Phallus ist das, was die Frau absolut und endgültig unfrei macht." Eigenartig sind die Parallelen zu Le deuxième Sexe, dem Grundlagenwerk des Feminismus, mit dem Simone de Beauvoir fast ein halbes Jahrhundert später das Geschlechterverhältnis behandeln wird: die Frau ist das Andere, das weniger Individuelle. Beauvoir kannte Weininger vermutlich nicht, Geschlecht und Charakter wurde erst 1975 ins Französische übersetzt. Aber sie kannte den Geist Weiningers oder, besser, den Geist, dessen Symptom Weininger war; und sie selbst war ihm erstaunlich nahe.
Nein, was in Geschlecht und Charakter verhandelt wird, ist jenseits von Homo- und Heterosexualität, jenseits von Miso- oder Philogynie. Weininger ist immer Weininger und etwas darüber hinaus. Ihn heute zu lesen, wirkt fast grotesk, sich über ihn aufzuregen, ihn beim Wort zu nehmen, wäre lächerlich, weil es ums Wort gar nicht geht. Weiningers Thesen wirken abstrakt, einerseits durch die historische Distanz, andererseits durch die Form des Werkes selber. Unaktuell bis zum Abwinken ist Geschlecht und Charakter, kaum noch nachvollziehbar im 21. Jahrhundert, das vielleicht nicht mehr so gnadenlos unter dem Diktat einer Kastrationsangst und des väterlichen Gesetzes steht. Vielleicht. Weiningers Ängste sind die Ängste einer beginnenden Moderne, einer Zeit, die er die "jüdischste" und "weibischste" nennt. Es steht zu hoffen, dass das gegenwärtige Jahrhundert, dem manche eine große Machtstellung der Frauen prophezeien, nicht Weiningeristen zu einer neuen Renaissance verhelfen wird. Aber M und W sind andere geworden. Hoffentlich.
Abstrakt bleibt Geschlecht und Charakter aber auch wegen seiner Übertriebenheit, in der etwas Morbides steckt, sie wirkt fast als Anästhetikum. Was Weininger von heutigen Misogynisten unterscheidet, ist seine Todessehnsucht. Denn in Geschlecht und Charakter - und darin liegt eine Modernität - geht es eigentlich nur um eines: um die Ausmerzung der Geschlechterdifferenz. Weininger schreibt eine Eschatologie. Die Konsequenz, die er ganz logisch aus seinen Thesen zieht, ist unkonventionell: stop making sex. "Der Mann muss vom Geschlechte sich erlösen und so, nur so erlöst er die Frau." "Hiermit ... ist die Forderung der Enthaltsamkeit für beide Geschlechter gänzlich begründet." Und wenn die ganze Gattung ausstirbt - besser so. Es "kann nicht sittliche Pflicht sein, für die Fortdauer der Gattung zu sorgen. - Alle Fécondité (Fruchtbarkeit, A.R.) ist nur ekelhaft." Der Jude wird durch den Tod des Juden Jesus zum Christen, die Frau wird durch die Vernichtung von W zum Mann - endlich weggeschafft.
Geschlecht und Charakter ist der Versuch einer Auslöschung. So kommt Weininger ein halbes Jahrhundert vor Jacques Lacan zu dem Schluss: "Die Frau also ist nicht." Schön wärs. Und wahr ist es: Frauenhass ist, wie jedes Ressentiment, reine Projektion, Frauen kommen nicht vor in Geschlecht und Charakter, Weininger kennt gar keine Frauen außer sich selbst, Weininger, W., der verzweifelten Monade.
Doch es geht noch weiter. Der erlösende Satz "das Weib muss als solches untergehen" erinnert in seiner Radikalität an Meister Eckharts Predigt Beati pauperes spiritu, in der er zum Zwecke der mystischen Vereinigung Gott bittet, "daß er mich Gottes quitt mache", denn Gott ist so sehr alles, dass er nichts ist. An diese Stelle hat Weininger, der Frauenhasser, das Weib gesetzt.
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